Sturm über der Eifel. Katja KleiberЧитать онлайн книгу.
Kopfende Platz, setzte sich ganz vorne auf die Stuhlkante.
»Sie kennen Leonhart Schmidt?«
Leonhart Schmidt, Leo mit den sanften braunen Augen. »Ja.«
»Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?«
»Er hat am Samstag angerufen, aber ich war nicht da. Er hat aufs Band gesprochen, dass er mich treffen wollte.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht.« Ella spürte, dass sie errötete. Ihre Wangen waren plötzlich verdächtig heiß. Sie hatte keine Ahnung, warum er angerufen hatte. Vielleicht wollte Leo mit ihr ausgehen? Aber das ging niemanden etwas an, auch die Polizei nicht. Das war ihr Privatleben.
»Woher kennen Sie Herrn Schmidt?«
»Was ist mit ihm?« Sie hatte die beiden Polizeibeamten bei einer Mordermittlung kennengelernt, bei der sich ihr Nachbar, Roccos Herrchen, als Täter herausgestellt hatte. Jetzt erinnerte sie sich wieder: Der dickliche Claes war Wachtmeister in Adenau, aber die Marx arbeitete doch bei der Mordkommission. Wieso war sie hier?
»Bitte beantworten Sie meine Frage.« Kommissarin Marx klang scharf, ihr Blick war bestimmt, und ihr Pferdeschwanz schien ständig zu wippen, obwohl sie ruhig auf der Bank saß.
»Ich habe an einer Kräuterwanderung teilgenommen, da sind wir uns begegnet und haben Telefonnummern ausgetauscht. Wir interessieren uns beide für Pflanzen. Vielleicht hat er eine botanische Besonderheit entdeckt und wollte mir davon erzählen.« Ja, dachte Ella, das war sogar wahrscheinlich. Leo hatte vermutlich wegen irgendetwas Banalem angerufen. Wieso nur bildete sie sich ein, dass er mit ihr ausgehen wollte? Wie kam sie darauf, dass er ihre Gefühle teilte? Sie riss sich zusammen. »Worum geht es denn?«
»Was macht Herr Schmidt beruflich?«
Ella stockte. Was ging das die Polizei an? Dann gab sie sich einen Ruck. Im letzten Jahr hatte sie die beiden angelogen, das hatte böse Folgen gehabt. Außerdem war es kein Geheimnis, womit Leo sein Geld verdiente. Das wusste hier sowieso jeder, und er sprach auch gerne darüber.
»Er bietet schamanische Reisen an.«
»Schamanische Reisen«, echote Kommissarin Marx. Claes zog die Stirn kraus.
»Ja. Das ist nicht verboten.«
»Hier in der Eifel?«
»Wie?«
»Die Reisen? Wohin gingen die?«
Wieso sprach die Kommissarin in der Vergangenheit? Ella wurde noch heißer. »Das sind eher Reisen der Seele. Er hilft anderen Menschen, sich und ihr Leben besser zu verstehen. – Warum fragen Sie nach Leo?«, presste sie schließlich hervor.
»Frau Dorn, ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Herr Schmidt ist gestern ums Leben gekommen.«
Etwas in Ella zerbrach.
Die Ameise
Die trockenen Blätter raschelten. Ein Eichelhäher krächzte empört. Normalerweise störte es Ella, wenn die Tiere des Waldes sich über ihr Kommen beschwerten. Doch heute war ihr alles egal. Sie sah den blauen Himmel nicht, achtete nicht auf die Pracht der roten Hagebutten. Der Hund trottete hinter ihr her. Heute würde sie ihm keine Stöckchen werfen.
An der alten Eiche angekommen, glitt sie an deren Stamm hinunter, setzte sich ihr zu Füßen. Rocco schien zu ahnen, dass nichts Spannendes passieren würde. Mit einem leisen Aufseufzen ließ er sich nieder, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und blickte Ella an, ein steter Bewunderer.
Leo, der Mann mit den sanften Augen, war tot. Etwas krampfte sich in ihr zusammen. Sie war ihm doch gerade erst begegnet, und nun sollte er tot sein? Für immer aus ihrer Welt verschwunden? Konnte den schmerzenden Seelen der Menschen nicht mehr helfen?
Ella rief sich zur Ordnung. Immerhin hatte sie den Mann kaum gekannt, ihn nur einmal gesehen. Sie wusste noch nicht einmal, ob ihre Begegnung für ihn genauso wichtig gewesen war wie für sie. Ob auch er etwas Besonderes in ihr gesehen hatte. Sie strich über das weiche Moos auf den Wurzeln der Eiche. Es war noch feucht vom Morgentau.
Aber er hatte angerufen, sagte sie sich, also wollte er sie wahrscheinlich wiedersehen. Wenn auch vielleicht nur, um Kräuterwissen auszutauschen. Was jetzt nicht mehr geschehen würde. Nie mehr. Die Endgültigkeit seiner Abwesenheit erschütterte sie.
Eine Ameise wuchtete ein Ästlein über den unebenen Waldboden. Trockene Blätter lagen ihr im Weg. Die Ameise musste um sie herumwandern, dabei immer das Zweigstück mit sich schleppend. Ameisen konnten Lasten tragen, die ihr eigenes Körpergewicht weit übertrafen, hatte Ella gelesen. Sie selbst konnte keine Last mehr ertragen, kein Federgewicht, kein Ästlein.
»Ums Leben gekommen«, echote die Stimme von Kommissarin Marx in ihr, die ihr anschließend »möglichst schonend« beigebracht hatte, dass Leo erstochen worden war. Als ob man so etwas überhaupt irgendwie schonend erklären konnte. So umständlich und beschönigend die Worte auch waren, die die Pferdeschwanzfrau gewählt hatte, sie hatten die Wucht der Wahrheit nicht mindern können. Leo war tot. Es würde sich nichts anbahnen zwischen ihnen. Er würde nicht noch mal anrufen. Sie würde nicht herausfinden, ob er Pflanzen wirklich so sehr geliebt hatte wie sie selbst. Ob sie gemeinsam etwas auf die Beine hätten stellen können, etwas Gutes. Und nie würde sie erfahren, ob seine Hände so sanft gewesen waren wie seine Augen.
Sie war ehrlich gewesen zu den Polizeibeamten. Sie hatte kein Alibi für den möglichen Tatzeitpunkt. Sonntagabend war sie müde gewesen, ihre erste Reitstunde hatte sie mehr angestrengt als gedacht. Sie hatte auf der Couch gelegen, ihren Kater auf dem Bauch, eine Decke über den Füßen, Rocco neben sich, und ein Buch gelesen. Im Kamin hatte das Feuer geknistert, alles war gut gewesen. Das Buch hatte von einer Frau gehandelt, einer Falknerin, die einen Habicht zähmte und damit die Trauer um ihren verstorbenen Vater überwand. Im Nachhinein erschien Ella das jetzt wie ein Zeichen, eine Vorhersage. Tod und Trauer, sollten das ihre Themen dieses Herbstes werden?
Eine Bö ließ sie erschauern. Ihr Hintern war kalt und feucht geworden. Es war definitiv nicht die richtige Jahreszeit, um draußen zu meditieren, wozu sie gar nicht gekommen war. Zu viele Gedanken. Die Kraft der Eiche hatte sich nicht auf sie übertragen. Diesmal nicht. Ella rappelte sich hoch und dehnte die steif gewordenen Muskeln.
Rocco sprang auf. Endlich tat sich was. Schnell blickte er sich um, fand einen Ast, nahm ihn ins Maul, sprang spielerisch umher, dabei nach Ella schielend. Sie achtete nicht auf ihn. Sie wusste, dass er ihr nach Hause folgen würde. Rocco brauchte keine Leine. Er ließ sie nie aus den Augen. Seit die Polizei sein Herrchen abgeführt hatte, war Ella sein Ein und Alles. Er schien fürchterliche Angst davor zu haben, auch sein neues Zuhause und sein neues Frauchen zu verlieren.
Ella zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch und ging einen Schritt schneller. Es war wirklich zu kalt, um im Wald herumzusitzen.
Auf dem Weg zu ihrem Haus, den Hang des Arembergs hinunter, entdeckte Ella einen ihrer Nachbarn. Er beugte sich über einen Zaunpfahl und spannte Draht neu. Sollte sie ihn nach einer Weide fragen, die sie pachten könnte? Sie könnte sich ja mal erkundigen, was das kosten würde.
»Hallo!« Ella sprach den Mann schon aus einiger Entfernung an, damit er nicht erschrak. Doch Rocco war ohnehin schon bei ihm, sprang begeistert um ihn rum, um ihn zum Spielen aufzufordern.
Der Bauer richtete sich auf. Er trug einen fleckigen Blaumann, der schon so viele Male durch die Waschmaschine gewandert war, dass er nur noch graublau war, und einen alten Fleecepullover. Auf dem Kopf saß eine speckige Kappe wie festgewachsen, um die Augen hatten sich Hunderte kleiner Fältchen eingegraben. Im Dorf nannten sie ihn den »Wasser-Juppes«, weil er vor Urzeiten mal beim Wasserwerk angestellt gewesen war. Um ihn von den drei oder vier anderen Juppes in der Umgebung zu unterscheiden.
»Hallo.«
Die Eifler wirkten auf den ersten Blick schweigsam, aber Ella wusste mittlerweile, dass das täuschte. Sie brauchten nur ein Weilchen, um aufzutauen.
Rocco wurde freundlicher begrüßt. Der Mann