Zirkuläres Fragen. Fritz B. SimonЧитать онлайн книгу.
Die Vermeidung von Schuldgefühlen ist für alle Beteiligten wichtig und ein hoher familiärer Wert. Dies macht es schwierig, Themen anzusprechen, die andere kränken, verletzen oder traurig machen könnten. Das gilt auch für die autoaggressiven Tendenzen des Sohnes. Nach dieser vorübergehenden Fokusverschiebung erfolgt die Rückkehr zu den Erklärungen …
FRITZ SIMON(zu Ernst) Ihre Erklärung für die gegenwärtige Situation ist nun welche genau? Ich verstehe noch nicht, was die Freundin damit zu tun hat, daß Sie jetzt Schwierigkeiten haben. Das ist ja schon lange her!
ERNSTSicher … ich meine, wenn jetzt zum Beispiel meine Mutter meinen Vater verlassen würde, da würde er in 10 Jahren auch noch nicht drüber wegkommen. Die hängen so eng zusammen …
FRITZ SIMONWie lange waren Sie beide denn zusammen?
ERNSTÜber vier Jahre!
FRITZ SIMONUnd wie lange sind Ihre Eltern zusammen?
ERNSTNa ja, 40 Jahre oder so, nicht? Sicher, das ist etwas anderes. Sie haben Familie gehabt und ich nicht.
FRITZ SIMONUnd Sie haben das Modell des Schnellklebers verwirklicht: Nach vier Jahren schon so eng zusammen wie nach vierzig!
Zugegeben: eine despektierliche Metapher.
ERNSTNa ja, wenn man sich mit der Zeit verschiedene Sachen anschafft und auch Pläne macht, daß man zusammenzieht, und nur noch wartet, bis Madame mit dem Studium fertig ist, und auf einmal kriegst du von heute auf morgen gesagt: „Ich habe einen anderen!“
FRITZ SIMONDas kam vollkommen überraschend?
ERNSTDas hat mich vollkommen … und das war drei Tage vor einer sehr, sehr wichtigen Prüfung!
FRITZ SIMONDas ist kombiniert mit diesen Prüfungen?
ERNSTNein, nein, das hat damals keine Relevanz gehabt.
Die Hypothese, daß die Prüfungen möglicherweise durch die zeitliche Verknüpfung mit dem Verlassenwerden ihre traumatische und stressende Bedeutung gewonnen haben könnten, erweist sich als nicht plausibel für den Patienten.
FRITZ SIMONHaben Sie die Prüfung bestanden?
ERNSTNein, ich bin gar nicht erst angetreten. In dem Zustand konnte ich es nicht. Ich habe es halt ein Semester später gemacht. Das war auch nicht tragisch, aber das hat mich so absolut aus der Bahn geworfen. Ich habe dann gemerkt, wie ich mich in diesen mehr als vier Jahren total von den anderen abgekapselt habe. Und plötzlich wollte ich wieder auf die zugehen, und da haben die gesagt: „Nee, ätsch ätsch! Die ganze Zeit wollten wir dorthin und dorthin, und du bist nie mitgegangen!“ Na ja, und so hat sich das dann entwickelt, dann kommst du in einen blöden Kreis.
FRITZ SIMONWas ist denn aus Ihrer Ex-Freundin geworden?
ERNSTDie hat ein halbes Jahr später geheiratet und drei oder vier Monate später ein Kind bekommen.
FRITZ SIMONDas ging schnell. Weiß die, wie es mit Ihnen weitergegangen ist?
ERNSTWeiß ich nicht!
FRITZ SIMONWas schätzen Sie?
ERNSTSie weiß es, mit Sicherheit!
FRITZ SIMONUnd wenn sie es weiß, reagiert sie da eher mit Schuldgefühlen drauf? Oder reagiert sie darauf, indem sie sagt …
(Mutter nickt)
FRITZ SIMON(zur Mutter) Sie nicken?
MUTTERIch meine, ja. Aber nur so ganz im Hintergrund. Ich könnte mir es vorstellen. Ich kann das ja nicht einschätzen, ob sie mit dem Mann glücklich ist oder nicht. Ich kann auch nicht einschätzen, ob sie mit ihm (macht Kopfbewegung Richtung Sohn) glücklich geworden wäre.
FRITZ SIMONEs gibt ja verschiedene Möglichkeiten, wie man reagiert, wenn man so etwas hört. Sie könnte sagen: „Gut, daß ich mich von ihm getrennt habe. Ich wußte ja gleich, daß … oder …“
MUTTERNein, nein, nein, die hatten ein sehr gutes Verhältnis. Sie hat zu mir mehr Vertrauen gehabt als zu ihrer eigenen Mutter. So habe ich es jedenfalls immer von beiden gehört. Ich habe sie sehr gern gemocht. Wir waren genauso überrascht und erschüttert von der Trennung, aber …
Das Kommunikationsmuster der Familie Bastian entspricht dem, was in der Literatur als „bindend“ bezeichnet wird. Harmonie und Nähe sind die alles überragenden Werte. Trennung wird im Erleben mit Tod gleichgesetzt. Der einzelne sieht sich nur als Teil einer Paar- oder Familienbeziehung überlebensfähig. Solche familiären Muster haben üblicherweise eine hohe Anziehungskraft auf Kinder aus Familien, in denen eine eher kühle Atmosphäre vorherrscht und die Eltern-Kind-Beziehung distanziert ist. Man wählt dann gelegentlich den Partner wegen seiner Eltern, um von ihnen zu bekommen, was zu Hause gemangelt hat. So mag es hier auch gewesen sein (aber das ist natürlich Spekulation).
FRITZ SIMON(fällt ihr ins Wort) Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Was glauben Sie denn, was diese Freundin veranlaßt hat, sich zu trennen?
MUTTERSich zu trennen?
FRITZ SIMONJa! Warum ist sie ihm weggelaufen?
ERNSTKann ich Ihnen sagen!
MUTTERIch kann das nur aus ihrem Munde nachsagen. Sie hat damals gesagt: „Er beeinflußt mich zu sehr!“ Er wollte damals nicht, daß sie ins Ausland geht. Die beiden waren vielleicht viel zu eng zusammen, zu verknüpft, als daß einer dem anderen noch eine gewisse Freiheit gelassen hätte.
ERNSTNa ja, ich wollte … Es ist ziemlich klar, wenn sie ins Ausland geht, das wird dann loser. Das wollte ich verhindern.
FRITZ SIMONAh ja. Das war die Sorge vor der vollkommenen Trennung?
ERNSTJa.
FRITZ SIMON(zur Schwester) Ist das so, daß er am liebsten 24 Stunden am Tag mit ihr zusammen gewesen wäre?
ERNSTDas nicht unbedingt!
FRITZ SIMONMich interessiert dabei: Ist das so eine Nähe-Distanz-Kiste? Wieviel Nähe, wieviel Autonomie läßt man sich, wieviel Freiheit läßt man sich, und wie eng bindet man jemanden an sich? Das ist für die meisten Leute in Beziehungen ein wichtiges Thema.
Wenn man sich als Therapeut von Theorien leiten läßt, die auch von den für die Ratgeberspalten der Boulevardpresse verantwortlichen Kollegen oder in Call-in-Sendungen im Fernsehen vertreten werden, kann man sie auch gleich offen thematisieren und gemeinsam „fachsimpeln“. Auf diese Weise nimmt man die Klienten gewissermaßen mit in die Außenperspektive der Experten, die von Kollege zu Kollege über einen Patienten oder eine Familie sprechen, die sich zufälligerweise unter den am Gespräch beteiligten Experten befinden.
ERNSTDie war halt so, die Frau, wenn ich etwas unternehmen wollte, hat sie das große Jammern gekriegt.
FRITZ SIMONWenn Sie etwas unternehmen wollten?
ERNSTWenn ich etwas allein unternehmen wollte. Wenn ich gesagt habe: „Ich gehe jetzt mit dem XY ein Bier trinken!“ Oder: „Ich mach da irgend etwas“, dann sind sofort die Tränen gelaufen: „Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet!“
FRITZ SIMONDas heißt, Sie waren sich sehr ähnlich? Sie wollten sie nicht ins Ausland lassen?
ERNSTZumindest nicht für die Zeit, wo sie hinwollte!
FRITZ SIMONSieht Ihre Mutter das denn richtig, daß das einer der Gründe sein kann, warum sie Sie verlassen hat?
ERNSTNee!
FRITZ SIMONNein? Was denn?
ERNSTIch mein, das vielleicht auch … daß ich da übertrieben hab mit der Fürsorge. Aber ich glaube eher, das war der Kreis, in den sie da reingekommen ist. Sie war mit lauter Medizinern und Juristen zusammen, und das ist ja sowieso ein eigenes Volk. Und da wollte sie dann öfters zu irgendeiner Feier. Und dann bin ich zweimal mit dabei gewesen und auch gefragt worden: „Ja, was machst denn du? Was studierst du denn? – Ach so, nur BWL!“ Absolut die Nase hoch! Und da habe ich gesagt: „Da gehe ich nicht mehr