Zirkuläres Fragen. Fritz B. SimonЧитать онлайн книгу.
Dann habe ich gesagt: „Da kannst du alleine hin, dann gehe ich halt meiner Wege am Samstagabend!“ Na ja und …
FRITZ SIMONUnd dann hat sie etwas „Besseres“ gefunden – in Anführungsstrichen.
MUTTERAnscheinend …
ERNSTOffensichtlich!
FRITZ SIMONIch kapier immer noch nicht – und es mag ja sein, daß ich da zu blöd bin –, wie da nach der langen Zeit jetzt noch die Zusammenhänge sind. Wie ist das jetzt?
Sich zu seinem Nichtverstehen zu bekennen und als Konsequenz daraus weitere Fragen zu stellen ist eine der nützlicheren Interviewstrategien. Dem steht meist entgegen, daß Therapeuten meinen, sie würden ihre Qualitäten zeigen, wenn sie möglichst schnell – und manchmal gar ohne Worte – verstehen. Doch wenn sie ehrlich sind, tun sie das ja gar nicht, sondern sie tun nur so, als ob …
ERNSTDas ist ganz einfach! Wir haben uns, zum Beispiel, das eine Zimmer zusammen eingerichtet. Jedes Mal, wenn ich da heraufkomme, kommen die Erinnerungen. Also ich gehe sehr selten da rein.
FRITZ SIMONDas gibt es noch, das Zimmer?
ERNSTJa, ich meine, das sind Sachen für fünf-, sechs-, sieben-, achttausend Mark, die schmeiß ich nicht hinaus deswegen!
Was ist mehr wert, fragt sich der außenstehende Beobachter natürlich gleich, Möbel für achttausend Mark oder die Befreiung von unangenehmen Erinnerungen? Aber vielleicht sind die Möbel ja nur der Vorwand, sich immer wieder schmerzlich erinnern zu dürfen …
FRITZ SIMONIch wollte nur wissen: Haben Sie etwas verändert, oder ist es immer noch so wie damals?
ERNSTMan kann nicht so viel verändern. Es ist ein relativ kleines Zimmer.
FRITZ SIMONDas ist wo? In der Wohnung (blickt zur Mutter) bei Ihnen?
(Mutter nickt)
ERNSTJa!
FRITZ SIMONDas ist so etwas wie eine Hauskapelle?
Zugegeben, wieder eine etwas despektierliche Bemerkung angesichts der Gefühle, die mit diesem Ort verbunden sind. Aber Gefühle sind Bewertungen. Wer sie zu sehr respektiert und nicht irgendwie in Frage stellt, läuft Gefahr, diese Bewertungen zu bestätigen.
ERNSTKapelle würde ich das nicht nennen! Eine Kapelle, wo ich die Stereoanlage stehen habe, ist das …
Der Patient nimmt das Spiel mit der Despektierlichkeit an, indem er den Begriff Kapelle „mißversteht“ … Dadurch wird der Ernst (= Gegensatz zu „Spaß“ und = Patient) etwas aus der Situation herausgenommen. Wer humorvoll auf eine Situation blickt, ist emotional immer etwas distanzierter. Auf diese Weise wird es möglich, auch sehr belastende Themen relativ entspannt zu betrachten.
FRITZ SIMONSo meinte ich Kapelle nicht, wo Sie Ihr Schlagzeug stehen haben; … sondern daß das der Reliquienschrein für Ihre frühere, verlorengegangene Beziehung ist.
ERNSTJa, sicher, das ist so. Jetzt beim Aufräumen bin ich an verschiedene Sachen gekommen, die mich da halt wieder total dran erinnert haben.
FRITZ SIMONUnd wie hilft Ihnen da der Alkohol? Das versteh ich noch nicht!
Auch hier zielt das Nichtverstehen des Therapeuten erneut darauf, den Patienten mit in die Außenperspektive gegenüber sich selbst bzw. seinen psychischen Mechanismen zu nehmen. Es unterhalten sich zwei Experten, wobei nur einer von beiden – der Patient – die Prozesse, über die gesprochen wird, direkt beobachten kann. Der andere – der Therapeut – ist auf die Beschreibung des Patienten, d. h. auf Hörensagen, angewiesen. Ein Augen-, Ohren- und Bauchzeuge, der Experte für sein subjektives Erleben, konferiert mit einem Experten für allgemein menschliches Erleben.
ERNSTDann vergesse ich das. Dann wird es leichter. Das ist ja die Wirkung des Alkohols, daß er enthemmt. Dann kommt das Gefühl: die blöde Kuh, die blöde!
FRITZ SIMONAh, das ist eher ein aggressives Gefühl ihr gegenüber?
ERNSTIhr gegenüber, ja.
FRITZ SIMONAh ja.
Die Äußerung aggressiver Gefühle gehört nicht zu den im Rahmen der Spielregeln der Familie Bastian erlaubten oder gar gebotenen Verhaltensweisen. Hier scheint die Funktion des Alkohols darin zu bestehen, etwas ansonsten Verbotenes zu ermöglichen.
ERNSTNormalerweise nicht …
FRITZ SIMONNormalerweise, d. h. ohne Alkohol, haben Sie keine aggressiven Gefühle ihr gegenüber?
ERNSTOhne Alkohol denke ich gar nicht dran. Also nur, wenn ich bestimmte Dinge sehe.
FRITZ SIMONNoch mal anders gefragt. Nehmen wir einmal an, Sie haben überhaupt keine Lust, etwas zu trinken, und Sie wollten die Chance erhöhen, daß Sie Lust dazu bekommen, dann müßten Sie in dieses Zimmer gehen und an Ihre ehemalige Freundin denken?
ERNSTNee, das ist Quatsch. Das ist die falsche Reihenfolge. Absolut falsche Reihenfolge!
Da hat er natürlich recht. In unserem Alltagsdenken, in dem wir zwischen Ursachen und Wirkungen unterscheiden, hat die Ursache zeitlich vor der Wirkung lokalisiert zu sein. Eine der Möglichkeiten, Erklärungen zu dekonstruieren und die Option für die Konstruktion alternativer Erklärungen zu eröffnen, liegt daher in der Veränderung der zeitlichen Reihenfolge. In der vom Therapeuten gestellten Frage ist aber noch eine andere Neukonstruktion enthalten. Es wird – rein hypothetisch – das Erreichen eines negativ bewerteten Verhaltens („Trinken“) als Resultat einer Entscheidung behandelt. Wenn der Patient die Absicht hätte … dann müßte er … Die Beschreibung aus der Außenperspektive führt zu der regelhaften Verknüpfung von In-den-Schrein-Gehen und Trinken. Solch eine Regel läßt sich in vielerlei Hinsicht nutzen, um das Trinken wahrscheinlicher zu machen oder um es unwahrscheinlicher zu machen. Die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten bleibt beim Patienten.
FRITZ SIMONDas glaube ich Ihnen. Das habe ich aber bewußt so gesagt! Das ist ja nicht zufällig. Mich interessiert: Wie können Sie Einfluß darauf nehmen. Können Sie das so …?
ERNSTNein! Ich muß einfach mehr …
Es widerspricht einfach den üblichen Denkgewohnheiten, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man ein Symptom oder sonst einen offiziell unerwünschten Zustand herbeiführen kann. Alle Welt schaut immer nur, wie Lösungen gefunden werden können. Daher besteht für lösungsorientierte Therapeuten die Gefahr, nur das zu sagen, was ein wohlmeinender Nachbar auch schon gesagt hat. Kehrt er die Perspektive hingegen um und schaut er darauf, wie das Symptom herbeizuführen oder zu verschlimmern ist, eröffnet er den Blick auf bislang ungeahnte oder zumindest ungenutzte Einflußmöglichkeiten. Aus diesem Grund wird der Versuch des Patienten, zu erzählen, was er eigentlich zur Lösung dieses Problems tun sollte, unterbrochen und erneut der Blick auf seine destruktiven Möglichkeiten gerichtet. Die Botschaft, die implizit gegeben werden soll, lautet: Auch selbstzerstörerische Verhaltensweisen lassen sich als Resultat von Entscheidungen verstehen.
FRITZ SIMONNein, mich interessiert jetzt nicht, wie Sie das Trinken wegkriegen können. Mich interessiert genau das Umgekehrte. Nehmen wir an, Sie haben ein Jahr lang nicht an Alkohol gedacht, überhaupt nicht … Wie könnten Sie dafür sorgen, daß Sie wieder trinken. Nehmen wir an, Sie bekämen 100 000 DM dafür, daß Sie wieder trinken – für ein medizinisches Experiment: Lebertransplantation plus Alkohol vs. Lebertransplantation ohne Alkohol. Die Pharmaindustrie sponsert es. Und die brauchen jemanden, der Alkohol trinkt, auch wenn er weiß, daß es ihm nicht bekömmlich ist. Sie sind in der einen Vergleichsgruppe, die anderen sind in der anderen. Wie könnten Sie sich die Lust auf Alkohol erhöhen, wie können Sie sie herbeiholen, wenn sie eigentlich nicht von sich aus spontan kommt. Was müßten Sie tun?
(Ernst zuckt die Achseln)
Das ist die übliche Antwort, die man zunächst auf solche Fragen erhält. Das ist aber nicht weiter schlimm, weil Fragen ja immer auch dazu dienen, Ideen zu streuen und Sichtweisen in die Welt zu setzen, die nicht spontan in der Familie entstehen würden. In solch einem