Sophienlust Bestseller Box 2 – Familienroman. Marisa FrankЧитать онлайн книгу.
das wirklich wahr? Hat mich mein Vati überhaupt noch lieb?« Hoffnung glomm in den dunklen, fast schwarzen Augen des Kindes auf.
»Aber natürlich, Ulli. Dein Vati liebt dich mehr als alles andere auf der Welt. Ihr beiden Männer müßt doch zusammenhalten. So, und jetzt wisch dir die Tränen ab und freu dich mit den anderen Kindern, daß sie Ferien haben. In Ordnung?«
Ulli nickte und schniefte noch ein bißchen. Aber er konnte auch schon wieder lächeln. »Und ich darf wirklich meinen Vati besuchen gehen?« vergewisserte er sich noch einmal, ehe er sein Tuch aus der Hosentasche zog.
»Versprochen, Ulli. Und du weißt ja, was man verspricht, das muß man auch halten.« Erst jetzt war der Junge wieder zufrieden, aber Frau Rennert machte sich so ihre Gedanken.
Der Kleine zeigte schon typische Anzeichen eines Heimkindes, obwohl sich in Sophienlust alle bemühten, dem Jungen sein Elternhaus so gut es eben ging zu ersetzen.
Aber das war gar nicht so einfach. Seine Erinnerung an die geliebten Eltern war noch sehr gut, und er war schon fast zu groß, um sich problemlos umzustellen. Frau Rennert hatte sich ohnehin schon gewundert, daß bei ihm alles so glattgegangen war. Jetzt kam anscheinend das dicke Ende nach.
Denn daß das erst der Anfang war, das wußte die Heimleiterin mit ziemlicher Sicherheit. Gleich heute abend wollte sie mit Frau von Schoenecker und Schwester Regine darüber sprechen.
*
Denise hatte sich schon so etwas gedacht, als Frau Rennert an diesem Abend bei einem Glas gekühlter Limonade das Gespräch auf Ulli Meinradt brachte. Auch sie hatte mit diesen Reaktionen gerechnet, aber daß es so lange dauern würde, hätte sie nicht gedacht.
»Vor zwei Tagen habe ich Ullis Vater im Krankenhaus besucht. Es geht ihm schon etwas besser«, berichtete die Verwalterin, die mit all ihrer Liebe für ihre Schützlinge sorgte.
»Dann könnte man doch vielleicht einen kurzen Besuch verantworten«, überlegte Schwester Regine laut, der der kleine Ulli ebenfalls von Herzen leid tat.
»Genau das waren auch meine Überlegungen. Es ist für den Jungen enorm wichtig, die Nähe seines Vaters zu spüren. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Herr Meinradt den Tod seiner Frau schon so weit überwunden hat, daß er seinen kleinen Sohn trösten könnte.«
Schwester Regine nickte nachdenklich. Sie konnte sich gut in die Lage des jungen Witwers hineindenken, denn sie selbst war vor einigen Jahren in der gleichen Situation gewesen. Sie hatte an einem einzigen Tag ihren geliebten Mann und ihr kleines Töchterchen Elke verloren.
Auch sie hatte damals geglaubt, das Leben sei für sie zu Ende. Und dann war sie nach Sophienlust gekommen und hatte bei den elternlosen Kindern eine neue Aufgabe gefunden, die sie erfüllte und sie über den erlittenen Verlust hinwegtröstete.
Nur an manchen Tagen, meist wenn der Himmel grau und verhangen war, mußte sie noch an jenen furchtbaren Unglückstag denken, der ihr das Liebste im Leben genommen hatte.
Denise ahnte, daß die junge blonde Frau Erinnerungen nachhing. Sie kannte Schwester Regines Geschichte und stand ihr seit sie hier als Kinder- und Krankenschwester lebte, als Freundin und Vertraute treu zur Seite.
»Vielleicht sollten Sie mit Ulli nach Maibach fahren, um seinen Vater zu besuchen«, schlug die Gutsbesitzerin vor. »Ich glaube, daß Schwester Regine die richtigen Worte finden wird, um den gebrochenen Mann wieder aufzurichten, meinen Sie nicht auch, Frau Rennert?«
Die Heimleiterin dachte einen Augenblick nach und nickte dann. »Sie haben recht, Frau von Schoenecker. Ich glaube auch, daß Schwester Regine die geeignete Person wäre. Denn Ulli muß schnellstens geholfen werden…«
»…und seinem Vater auch«, vollendete Schwester Regine den angefangenen Satz der Heimleiterin.
*
Eine Woche später machte sich Schwester Regine zusammen mit Ulli, der vor Ungeduld schon nicht mehr ruhig sitzen konnte, auf den Weg ins Maibacher Krankenhaus. Denise hatte zuvor lange mit dem behandelnden Arzt Dr. Schmoll telefoniert, und auch er war der Meinung gewesen, daß dieser Besuch vielleicht dem Patienten helfen könnte.
Ulli trug ein kleines Sträußchen mit Sommerblumen in seinen Händen.
»Was meinst du, Schwester Regine, ob sich mein Vati über unseren Besuch freuen wird?« fragte der Junge etwas ängstlich und schaute zu der hübschen Frau auf.
Regine Nielsen, wie die Kinderschwester mit vollem Namen hieß, lachte zuversichtlich, obwohl ihr in Wirklichkeit nicht danach zumute war. »Natürlich wird sich dein Vati freuen«, antwortete sie. »Es ist nur möglich, daß er es nicht so richtig zeigen kann, weil er noch immer sehr, sehr krank ist. Darum mußt du auch schön lieb sein und nicht wild im Krankenzimmer herumrennen, weil das deinen Vati stören könnte.«
Dafür hatte Ulli Verständnis. Er nickte zustimmend. »Ich werde ganz leise sein, darauf kannst du dich verlassen«, stimmte er etwas altklug zu. »Ich bin ja schon groß und kann mich benehmen.«
Aber als sie vor der Tür standen, die sie noch von Klaus Meinradt trennte, da wurde es Regine Nielsen doch etwas mulmig zumute. Was war, wenn sie nicht die richtigen Worte fand?
Jetzt bereute sie es, daß sie an der Pforte nicht nach dem Stationsarzt gefragt hatte. Er hätte ihr bestimmt einen Rat geben können, wie sie am besten mit dem Schwerverletzten umgehen sollte. Aber eine der Schwestern, die immer wieder eilig an ihr vorbeihasteten, wollte sie auch nicht fragen. Sie waren so geschäftig, daß sie sie nicht stören wollte.
Zaghaft klopfte sie an die Tür. Als keine Antwort kam, trat sie trotzdem ein, gefolgt von Ulli, der ängstlich die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte.
»Guten Tag, Herr Meinradt. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Regine Nielsen«, begann die junge Frau verlegen.
»Was wollen Sie von mir?« knurrte der Mann und schaute teilnahmslos zur Tür. »Ich kenne Sie nicht.«
»Das ist richtig«, gestand Regine und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. Sie kam sich wie ein dummes Schulmädchen vor, das seine Lektion nicht gelernt hatte.
War sie damals auch so überheblich gewesen, um ihren Schmerz zu tarnen? Wahrscheinlich. Sie mußte viel Geduld mit diesem geschlagenen Mann haben.
»Ich bringe Ihnen Ulli. Ihr Sohn hat es nicht mehr ausgehalten ohne ein Lebenszeichen von seinem Vater.«
»Lebenszeichen ist gut«, murmelte Klaus und lachte bitter auf.
Schwester Regine erschrak. Wie sollte sie an diesen Menschen herankommen? Sein Herz hatte sich verhärtet. Nur Ulli konnte seinem Vater helfen. Er mußte die richtigen Worte finden, die den Mann aus seiner Einsamkeit herausrissen.
Vater und Sohn mußten sich gegenseitig helfen, wenn sie dem Alltagstrott standhalten wollten.
Auf Zehenspitzen war Ulli zu dem Krankenbett geschlichen, in dem sein Vater fast ausschließlich die letzten Wochen verbracht hatte. Daß er seit einigen Tage sogar aufstehen und herumlaufen durfte, bedeutete ihm nicht viel. Er wäre auch liegengeblieben, um auf den Tod zu warten.
»Möchten Sie sich nicht setzen?« schlug er ohne besonderes Interesse vor. Seinen Sohn hatte er noch nicht einmal angesehen.
»Danke, ja, aber wir können nicht allzu lange bleiben. Komm, sag deinem Vati guten Tag, Ulli.«
Zögernd trat der Junge noch näher an das Bett heran. Er konnte ihn nur im Profil sehen, denn er war noch zu klein. Aber sogar aus dieser Sicht sah der Kleine, daß sein Vater sich verändert hatte.
War er früher eine lustige, überschäumende Frohnatur gewesen, so sah er heute beinahe zum Fürchten aus. Die Wangenknochen traten hart hervor, und die dunklen Augen hatten jeglichen Glanz verloren.
Langsam drehte Klaus Meinradt den Kopf zu seinem Sohn um. »Hallo, Ulli«, sagte er schwach, und ein gequältes Lächeln stahl sich in sein verhärmtes Gesicht. »Wie geht es dir denn?«
»Hallo, Vati.«