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Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Markus VäthЧитать онлайн книгу.

Feierabend hab ich, wenn ich tot bin - Markus Väth


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Führungsaufgaben überfordert. Das merken natürlich nicht zuletzt die Mitarbeiter. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise trauten 40 Prozent der Arbeitnehmer ihren Chefs kein entsprechendes Krisenmanagement zu.15 Eine Einschätzung, die sicher nicht nur unter dem Eindruck der Krise entstand und damit sozusagen vom Himmel fiel.

       Profil und eigene Meinung leisten sich viele Führungskräfte nicht mehr.

      Manager sollen unterschiedliche, konkurrierende Ansprüche verschiedener Gruppen befriedigen: Aufsichtsräte, Führungskräfte, Mitarbeiter, Betriebsrat, Kunden, Aktionäre, Presse. Das setzt Entscheidungen voraus, zu denen man stehen muss, die Entwicklung eines individuellen Profils. Mit Ecken und Kanten und nicht stromlinienförmig auf die Karriere ausgerichtet. Profil und eigene Meinung jedoch leisten sich viele Führungskräfte nicht mehr und ziehen sich in einen Egozentrismus zurück. Eine eigene Meinung ist aber wichtig, um die Leuchtturmfunktion auszuüben, die zumindest im oberen Management erwartet werden darf. In diesem Sinne haben Manager durchaus Vorbildfunktion, weil sie einem so wichtigen Bereich der Gesellschaft – Wirtschaft und Arbeit – vorstehen. Daraus kann und darf sie niemand entlassen.

      Der Philosoph Karl Popper analysierte die Atomisierung der Moral und die Anfälligkeit der Moderne für Heilslehren verschiedenster Art auf hellsichtige Weise: »Bertrand Russell […] schreibt, dass […] wir uns intellektuell zu schnell entwickelt haben und moralisch zu langsam und, als wir die Kernphysik entdeckten, nicht zur rechten Zeit die nötigen moralischen Prinzipien verwirklichten. Mit anderen Worten: Nach Russell sind wir zu gescheit, aber moralisch sind wir zu schlecht. […] Ich glaube das genaue Gegenteil. Ich glaube, dass wir zu gut sind und zu dumm. Wir werden leicht von Theorien beeindruckt, die direkt oder indirekt an unsere Moral appellieren, und wir stehen diesen Theorien nicht ausreichend kritisch gegenüber; wir sind ihnen intellektuell nicht gewachsen und werden ihre gutwilligen […] Opfer.«16

      Wendet man diesen Gedanken auf die Felder der Politik, der Wirtschaft und der Religion an, so kann man durchaus entsprechende Parallelen in unserer Gesellschaft entdecken. So zum Beispiel:

      

den »Glaubenskrieg« um den angeblichen oder tatsächlichen Klimawandel,

      

die größtenteils subjektive und oft bar jeder Sachkenntnis geführte Debatte um Sexualstraftäter oder auch

      

die Stigmatisierung der Raucher als Verletzer der grassierenden »Gesundheitsreligion«.

      Popper redet keinem Zynismus das Wort. Er stellt fest, dass die großen moralischen Leuchtfeuer in unserer Gesellschaft erloschen sind und Tausenden von kleinen Taschenlampen Platz gemacht haben. Damit geht eine größere individuelle Entscheidungsmacht, aber auch ein größeres Frustpotenzial für den Einzelnen einher.

      Bis hierher lässt sich festhalten, dass sich die alltägliche Überforderung des Einzelnen jenseits individueller Umstände aus drei großen gesellschaftlichen Strömungen speist:

      1. Arbeit als übergroßer Teil des Selbstwerts. Zum einen wurde die eigene Rolle als arbeitender Mensch in der westlichen Gesellschaft zum übermächtigen Anteil des Selbstkonzepts, von dem Status, Wohlbefinden und individueller Lebenssinn abhängen. Das Ergebnis ist eine Dichotomie der Werte: Menschen mit Arbeit fühlen sich wertvoll, Menschen ohne Arbeit leiden unter ihrer vermeintlichen Wertlosigkeit und unter fehlender Anerkennung durch die Gesellschaft.

      2. Erfolg als Richtschnur aller Lebensbereiche. Das Streben nach Erfolg ist als Quasireligion weitgehend akzeptiert. Das eigene Leben wird gegen Vergleichspersonen und -gruppen »gebenchmarkt«. Man verfällt in einen nie endenden Optimierungswahn seiner selbst, der Karriere, der Partnerschaft, seiner Kinder. Wie eine Welle erfasst der Zwang zum Erfolg alle Lebensbereiche: Arbeit sowieso, aber auch Gesundheit, Fitness, Erziehung, Freizeitgestaltung etc.

      3. Atomisierung der Moral. Da übergeordnete Strukturen wie Religion, Politik und Wirtschaft in ihrer Meinungsführerschaft versagen, bildet man aus dem Setzkasten der ethischen Orientierung einfach sein eigenes moralisches Weltbild. Ein bisschen Christ, ein bisschen Salon-Kommunismus, ein bisschen Selbsterfahrungskurs mit Darmspülung. Das ist bedeutsam und bedrohlich zugleich: Wenn ich mein moralischer »Master of the universe« bin und allein die Regeln aufstelle, bewahrt mich bei einem Absturz nichts vor der eigenen Niederlage. Ohne ein Korsett aus flankierenden Grundwerten und Grenzen überschreite ich diese – weil ich sie nicht mehr wahrnehme.

       Wie eine Welle erfasst der Zwang zum Erfolg alle Lebensbereiche.

      Genau das ist Burnout – eine bis zur Selbstauflösung reichende Überschreitung von Grenzen, die wiederum man erst im Nachhinein erkennen kann. Wie eine Brille, die einem von der Nase gefallen ist und die man erst nach dem Stolpern wieder aufsetzt. Warum man jedoch stolpert, wie die Brille eigentlich aussieht und wer einem am effektivsten hilft beim Aufrappeln – darüber streiten sich die Geister.

      Bei allen drei bislang besprochenen Bereichen – Arbeitsorientierung, Erfolgswahn und atomisierte Moral – lag das Augenmerk auf dem Geschehen außerhalb der Familie. Der vierte Faktor der alltäglichen Burnout-Überlastung liegt dagegen innerhalb: das Phänomen des einsamen Reiters, des Lonesome Ranger.

      Viele Burnout-Betroffene berichten von Unverständnis, wenn sie quasi über Nacht von starken High-Performern zu schwachen, Halt suchenden Menschen werden. Manch einer bringt Tage und Nächte damit zu, seinem Partner oder seiner Familie zu erklären, wie es in ihm aussieht. Oft genug gelingt dies nicht. Das Spektrum eigener Emotionen reicht dabei von Wut und Existenzangst bis zum Gefühl der Erniedrigung und des Verrats. Jahr um Jahr hatte man investiert, in die Arbeitsstelle und den Partner, hatte gegeben und durchgehalten. Nur um im Burnout festzustellen, dass einen der Arbeitgeber ausgenutzt hat und nun fallen lässt. Dass der Partner nicht mit der neuen Situation zurechtkommt und sich möglicherweise trennen will.

      Ich nenne das den »Abgrund«: die schwindelerregende Befürchtung, sein halbes Leben lang einer Lüge auf den Leim gegangen zu sein, nämlich dem Versprechen, auf die eigene Investition erfolge irgendwann die Belohnung, die Rendite, die Anerkennung. Das Ende des berüchtigten »Rattenrennens«, bei dem man eigenen und fremden Ansprüchen so lange hinterherhetzt, bis man nicht mehr kann. Die Erkenntnis, trotz der eigenen Cleverness, trotz der immensen Arbeitsleistung, sich im Leben so verschätzt zu haben und nun mit leeren Händen dazustehen, trifft einen oft wie ein Schlag.

       Es liegt in der Natur des Menschen, Spuren hinterlassen zu wollen.

      Dabei geht es um mehr als nur die

      Frage, wer in der Abteilung die nächste Gehaltserhöhung bekommt. Es liegt in der Natur des Menschen, Spuren hinterlassen zu wollen, sichtbar zu sein und zu bleiben. Viele Menschen wollen sich durch Elternschaft »verewigen« und ihre Werte und Erfahrungen an ihre Kinder weitergeben. Maler und Musiker wollen bleibende Kunstwerke schaffen, und auch der kleine Straßenmusiker träumte einst davon, Madonna oder Michael Jackson zu werden. Politiker bezeichnen ihre Taten und Entscheidungen gern als »historisch« oder »alternativlos«, um eine gewisse Dramatik zu erzeugen und sie mit Bedeutung aufzuladen. Teenies lechzen nach der Demütigung in einer Castingshow, weil sie so wenigstens kurz aus der Masse der Menschen herausragen. Wenn sie schon keinen Job kriegen, so doch wenigstens diese fragwürdigen 15 Minuten Ruhm. Man sieht vielleicht auch seine eigenen Eltern, wie sie langsam körperlich und geistig abbauen und hat Angst, »selbst einmal so zu enden«. Dann schaut man zurück auf sein eigenes Leben und erkennt vielleicht, wie wenige Spuren man hinterlassen hat, wie wenige liebevolle, tragfähige Beziehungen man in seinem Leben hat, wie wenige magische und bewegende Momente. Trotz der aufreibenden Arbeit, trotz des Alltagsmultitasking, trotz der vielen Opfer, die man gebracht hat. Das ist der Moment, in dem alles schwarz wird und einem der kalte Schweiß ausbricht. Und man beginnt sich zu fragen: Wo bin ich falsch abgebogen?


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