In Nacht und Eis. Fridtjof NansenЧитать онлайн книгу.
der Fall war, so erscheinen unsere Aussichten nicht ungünstig.
Endlich glaubte ich oft auch unter dem Eis Zeichen einer stetigen, nordwestlich setzenden Strömung zu entdecken; das verbesserte meine Stimmung natürlich. Wenn aber der Strom wie oft wieder südlich setzte, kamen auch wieder Zweifel, und es schien mir keine Aussicht, unsere Aufgabe innerhalb einer angemessenen Zeit zu lösen.
Freilich ist solches Treiben im Eis aufregend und es bildet wenigstens eine Tugend aus: die Geduld. Die ganze Expedition ist in Wirklichkeit eine einzige, lange Übung in dieser nützlichen Tugend.
Im Frühjahr kamen wir etwas besser vorwärts als im Winter; im Großen und Ganzen aber war es stets derselbe ermüdende Krebsgang. Jedes Mal, wenn wir eine weite Strecke nach Norden zurückgelegt hatten, folgte eine Zeit des Rückschlags.
Merkwürdig war, dass der Bug der »Fram« während der ganzen Zeit nach Süden, gewöhnlich Süd ¼ West stand und seine Richtung während der langen Drift nur sehr wenig änderte. Ich schrieb am 14. Mai: »Die ›Fram‹ geht ihrem Ziel im Norden rückwärts entgegen, mit der Nase immer nach Süden gekehrt. Es ist, als ob sie ihre Entfernung von der Welt zu vergrößern fürchte, als ob sie sich nach südlichen Breiten sehne, während eine unsichtbare Gewalt sie dem Unbekannten entgegenzieht. Ist dieses Rückwärtsschreiten nach dem Innern des Polarmeeres ein böses Omen? Ich denke: nein; selbst der Krebs erreicht schließlich sein Ziel.«
Der allgemeine Verlauf unserer Drift ergibt sich am besten aus der Angabe unserer Länge und Breite an verschiedenen Tagen des Jahres 1894:
Bis dahin waren wir erfreulich weit nach Norden gekommen; dann aber wendete sich das Blatt:
Dann begannen wir wieder nordwärts zu treiben, wenn auch nicht sehr schnell.
Wie früher hielten wir beständig Ausguck nach Land und aus manchen Anzeichen schlossen wir auch auf Landnähe, aber sie erwiesen sich als Einbildung, außerdem sprach auch die große Tiefe des Meeres dagegen, dass Land nahe war.
Später, am 7. August, als ich 3850 Meter Tiefe gefunden hatte, schrieb ich in mein Tagebuch:
»Ich glaube nicht, dass man ferner noch von einem seichten Polarmeer sprechen wird, in dem man überall Land erwarten kann. Sehr möglich, dass wir in den Atlantischen Ozean hinaustreiben, ohne einen einzigen Berggipfel zu sehen!«
Der schon früher erwähnte Plan, mit Hunden und Schlitten über das Eis vorzudringen, beschäftigte mich sehr viel und ich prüfte während meiner täglichen Ausflüge, zum Teil auf Schneeschuhen, zum Teil mit Hunden, stets den Zustand des Eises und die Aussichten für einen Marsch über das Eis.
Während des Aprils war das Eis für Hunde besonders geeignet. Die Oberfläche war gut, da die Kraft der Sonne sie glatter gemacht hatte als das starke Schneetreiben zu Anfang des Winters; außerdem hatte der Wind die Eisrücken ziemlich eben zugedeckt, schließlich waren auch nicht so viele Spalten und Rinnen im Eis, sodass man ohne viel Mühe meilenweit vordringen konnte.
Das änderte sich jedoch im Mai. Schon am 8. Mai hatte der Wind das Eis vielfach aufgebrochen, sodass sich überall Rinnen bildeten, die die Fahrt mit Hunden sehr hemmten und aufhielten.
Am 20. Mai schrieb ich: »War vormittags auf Schneeschuhen draußen. Das Eis ist infolge der beständigen Winde während der letzten Woche in verschiedenen Richtungen sehr stark aufgebrochen; die Rinnen sind schwer zu überschreiten, da sie voll kleiner, treibender Eisstücke sind. Wiederholt geriet ich mit den Schneeschuhen auf schwimmende Schneebänder, die plötzlich unter mir nachgaben, sodass ich Mühe hatte, auf das feste Eis zurückzukommen.«
Am 5. Juni machte ich mit Sverdrup eine Schneeschuhfahrt nach Süden. Ich schrieb: »Das Eis hat sich verändert, aber nicht zum Besseren; die Oberfläche ist zwar hart und gut, aber die Eisketten sind sehr unangenehm und überall sind Spalten und Hügel. Eine Schlittenexpedition würde auf solchem Eis schlecht vorwärtskommen.«
Am 13. Juni heißt es im Tagebuch: »Das Eis wird mit jedem Tag weicher. Rund um uns herum bilden sich große Wasserpfützen auf den Schollen. Kurz, die Oberfläche ist abscheulich; die Schneeschuhe brechen überall durch ins Wasser. Man würde heute an einem Tag nicht weit kommen, wäre man gezwungen, nach Süden oder Westen aufzubrechen. Jeder Ausgang ist verbaut. Wir sitzen hier fest.
Manchmal kommt es mir ziemlich merkwürdig vor, dass keiner unserer Leute besorgt ist, dass wir weiter und immer weiter nach Norden treiben, ins Unbekannte hinein; keiner zeigt eine Spur von Furcht. Alle sehen düster aus, wenn es nach Süden oder zu weit nach Westen geht, und sie strahlen vor Freude, wenn wir nach Norden treiben, je weiter, desto besser.
Und doch kann keiner der Tatsache gegenüber blind sein, dass es sich um Leben und Tod handelt, wenn jetzt das eintreten sollte, was uns fast alle prophezeit hatten. Sollte das Schiff wie die ›Jeannette‹ vom Eis zermalmt werden und in die Tiefe sinken, ohne dass wir genügend Vorräte retten, um die Drift auf dem Eis fortzusetzen, dann würden wir den Kurs nach Süden zu richten haben und unser Schicksal würde kaum zweifelhaft sein.
Den Leuten von der ›Jeannette‹ erging es schlecht genug, aber ihr Schiff sank auf 77° n.Br., während für uns das nächste Land vielmal mehr als das Doppelte entfernt ist, von dem nächsten bewohnten Land gar nicht zu reden.
Von unserem Standort bis Kap Tscheljuskin sind es jetzt mehr als 550 Kilometer, und von dort nach einer bewohnten Gegend ist es noch viel weiter. Aber die ›Fram‹ wird nicht erdrückt werden. Niemand glaubt daran. Es geht uns wie dem Kajakruderer, der sehr wohl weiß, dass ein einziger falscher Ruderschlag genügt, ihn zum Kentern zu bringen und in die Ewigkeit zu schicken; ruhig aber setzt er seinen Weg fort, weil er weiß, dass dieser falsche Schlag nicht kommen wird.«
Sonntag, 12. August. Ein herrlicher Abend. Ich machte einen Spaziergang zwischen den Rinnen und Eishügeln; es war wunderschön ruhig und windstill, kein Laut zu hören außer den Wassertropfen von einem Eisblock. Die Sonne steht niedrig im Norden und über uns ist der blassblaue Himmelsdom mit goldverbrämten Wolken. Der tiefe Frieden der Einsamkeit. Wie kommt es, dass ich mich zuzeiten über die Einsamkeit beklage? Mit der Natur um sich, mit Büchern und Studien kann man sich doch nie ganz allein fühlen!
Dienstag, 21. August. 81°4,2’ n.Br. Seltsam. Kaum eine Veränderung!
Wir treiben etwas nach Norden, dann etwas nach Süden und bleiben fast immer auf demselben Fleck. Ich glaube aber, wie ich stets, schon ehe wir die Reise antraten, geglaubt habe, dass wir drei Jahre, genauer drei Winter und vier Sommer, nicht mehr und nicht weniger, fortbleiben und von diesem Herbst an in ungefähr zwei Jahren die Heimat wieder erreichen werden.3 Der bevorstehende Winter wird uns, wenn auch langsam, weitertreiben; er kündigt sich bereits an. Letzte Nacht hatten wir 4 Grad Kälte.
Sonntag, 26. August. Es scheint beinahe, dass der Winter schon gekommen ist. Die Kälte hat sich seit Donnerstag im Durchschnitt zwischen –4°C und –6°C gehalten. In der Temperatur gibt es hier nur geringe Veränderungen. Wir können damit rechnen, dass sie von jetzt ab regelmäßig sinkt, obwohl es für den Winteranfang noch ziemlich früh ist. Alle Tümpel und Rinnen sind mit Eis bedeckt, das schon dick genug ist, um einen Mann auch ohne Schneeschuhe zu tragen.
Ich war auf Schneeschuhen draußen. Angenehmer Weg, gutes Fortkommen überall; einige Rinnen hatten sich etwas erweitert oder waren zusammengedrückt worden; das neue Eis war nur dünn und bog sich unangenehm unter den Schneeschuhen, trug mich aber. Zwei Hunde brachen ein. Es hatte auch ziemlich stark geschneit, sodass es schönen Neuschnee gab. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, werden wir im Winter ausgezeichnet Ski laufen können. Denn es ist Süßwasser, das auf der Oberfläche der Rinne gefriert, es scheidet kein Salz aus. Auf Schnee mit Salz geht man ebenso schlecht wie auf Sand.
Mittwoch, 29. August. Frischer Wind rasselt und pfeift in der Takelung. Eine belebende Veränderung ohne Zweifel! Es herrscht ein Schneetreiben, als ob wir mitten im Winter wären. Schönes Augustwetter! Aber wir treiben wieder nach Norden