In Nacht und Eis. Fridtjof NansenЧитать онлайн книгу.
des Eises die Reise nach Westen mittun und dabei im besten Fall den Nordpol berühren.
Das Land konnte seinem Helden den Bau dieser Arche nicht verwehren. Und so lief die »Fram«, der Nansen ihren Namen nach der Lektüre eines Romans von Jules Verne gegeben hatte, im Oktober 1892 vom Stapel. Acht Monate später stach Fridtjof Nansen in Begleitung von zwölf Gefährten erneut mit Kurs aufs Eismeer in See. »Möge es«, flehte Nansen in einer Fachzeitschrift, »das Banner Norwegens sein, das als erstes über unserem Pol weht!« Die Fahrt zu »unserem Pol« galt also nicht voraussetzungslos dem Wissen und der Wahrheit, sondern war eine Demonstration des norwegischen Patriotismus. Sie war ein Abenteuer, ein Hasardspiel um alles oder nichts, das am Ende lediglich seinen Einsatz abwarf: absonderlich mithin und spannend – Fridtjof Nansens Geschichte In Nacht und Eis.
Sie hebt gemächlich an mit dem Abschied von Frau und Kind und dem langsamen Herantasten an die Packeisgrenze westlich von Sewernaja Semlja, wo Nansens Theorie bestätigt wurde: Während das Wasser um die »Fram« herum allmählich zufror und die Klumpen und Kloben nun andrängten und -drückten, fanden sie keinen Halt und waren gezwungen, sich unter den Corpus des Schiffes zu schieben und ihn rumpelnd und ruckend auf die Schollen zu wuchten. Huckepack zum Nordpol!
Nachdem die dreizehn Männer anfangs noch geschäftig waren sich einzurichten, Messstationen und eine Windmaschine aufzubauen, stellte sich doch binnen Kurzem eine Monotonie des Existenzrhythmus ein, die jener ähnelte, der Nansen auf seinem Marsch durch Grönland ausgesetzt war. Und so meldete sich auch das »Chaos der Disharmonien« zurück. »Mein Geist ist verwirrt«, notierte er nächtens in seiner Kajüte, »alles ist in Unordnung geraten, ich bin mir selbst ein Rätsel. Ich bin abgenutzt und fühle doch keine besondere Ermüdung. Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt.« So vergingen die Wochen und die Monate und zuletzt gar die Jahre … 1893 … 1894 …
Er hatte seit Langem berechnet, dass die »Fram« zwar wie erwartet nach Westen driftete, den Pol indes nicht streifen würde. Da entschloss er sich, in Begleitung von Hjalmar Johansen die leidlich sichere Behausung seines Schiffes zu verlassen und auf Brettern das Traumziel anzugehen. Als ob die Losung jetzt lauten würde: »Der Tod oder der Nordpol.«
An Wahnwitz war das Vorhaben nicht zu übertreffen. Denn abgesehen von den Unwägbarkeiten, die den beiden bevorstehen mochten – wie wollten sie vom Rand der Packeiskappe in die Heimat übersetzen, wo die schiere Entfernung vom Nordpol – vorausgesetzt, sie würden ihn erreichen – nach Kristiania jener von hier nach Neapel entsprach? Eine Distanz, auf der man sich’s keinesfalls auf Fähren und in Wagon-Lits wohl sein lassen konnte, sondern die in Kajaks und auf Skiern Schritt für Schritt und Schlag für Schlag durchlitten werden musste. Und womit würde die Plackerei enden?
Wieder brach Fridtjof Nansen alle Brücken hinter sich ab, als er am 14. März 1895 mit Hjalmar Johansen davonzog … Die Hunde vor den drei Schlitten mit vielerlei Gepäck waren der ambulante Proviant. Und schien dem »Unternehmen Nordpol« auch zuerst ein guter Stern zu leuchten, so erwies sich doch alsbald, dass es nicht zu meistern war: Im zähen Ringen gegen die Widerstände der Natur büßten die Männer ihren Wegmesser ein; sie vergaßen ihre Uhren aufzuziehen und konnten (weil man hierzu wissen muss, wann es zwölf Uhr mittags ist) ihre Position nicht mehr bestimmen; ja: nach fünfundzwanzig Tagen saßen sie in einem Feld von verkanteten Eisblöcken fest.
Da befahl Fridtjof Nansen am 8. April 1895 den Rückzug.
Sie wähnten auf einer nördlichen Breite von 86°14’ zu sein, hatten tatsächlich nur 86°04’ erreicht – auch dies immerhin eine Höhe, auf der noch nie ein Mensch gewesen war – und kehrten jetzt um. Aufs Geratewohl Richtung Süden. In abstracto schnitten sie irgendwo die Linie, auf der die »Fram« derweil entlanggedriftet war, und verloren sich zeitlos und ortlos.
Das Zeugnis Fridtjof Nansens von der dritten Überwinterung in Nacht und Eis, vom neunmonatigen Dahinvegetieren in einem Erdstollen, von Eisbärattacken, von Stürzen ins Meer und der glücklichen Wiedervereinigung mit der Mannschaft der »Fram« – diese suspense story, der kein Vorwort je die Spannung rauben darf, besticht durch ihre Ehrlichkeit.
Man kann seither, nachdem er das verwegene Abenteurertum aufgegeben hatte und als Politiker im In- und Ausland hoch geschätzt und 1920 für seine Verdienste um die Opfer des Ersten Weltkriegs mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden war, davon lesen, dass der Realpolitiker Nansen im Grunde ein Fantast war. Wohl bedacht schließt sein Buch mit dem Satz: »Aber welchen Wert hätte das Leben ohne seine Träume?«
Damals hatte er sich ausgemalt, den Nordpol zu erreichen. Später – und über Nansens Tod am 13. Mai 1930 hinaus – blieb jene Fiktion ein Ausdruck seines Idealismus. Denn konnte man nicht ebenso gut eine Welt erdenken, in der den Verhungernden Nahrung und den Verfolgten Zuflucht gegeben würde?
Deswegen war es für unzählige Menschen eine segensreiche Fügung, dass Fridtjof Nansen am 17. Juni 1896 bei 79°55’ nördlicher Breite und 49°50’ östlicher Länge auf einen Mann stieß, der Englisch sprach und mit ihm, als ob da jemand zum Tee vorbeigekommen wäre, über Gott und die Welt plauderte, bis er plötzlich mit unnachahmlich-britischem Understatement die Frage stellte: »Aren’t you Nansen?«
Detlef Brennecke
Ihr,
die das Schiff getauft
und den Mut hatte zu warten
DIE ABREISE
So fahre ich gen Norden in das finstre Reich hinein, wo keine Sonne scheint. Dort ist kein Tag. Volkslied aus Telemarken
Es war am Johannistag 1893. Grau und traurig brach er herein; nun hieß es Abschied nehmen – unwiderruflichen Abschied. Die Tür schloss sich hinter mir. Zum letzten Mal ging ich vom Haus durch den Garten nach dem Strand hinab, wo an der Bucht das kleine Motorboot der »Fram« wartete. Hinter mir lag alles, was ich im Leben lieb hatte. Was lag vor mir? Und wie viele Jahre mochten vergehen, ehe ich alles das wiedersah? Oben im Fenster saß Liv, mein Töchterchen, und klatschte in die Händchen. Glückliches Kind, du ahnst noch nicht, wie wunderbar verwickelt und wechselvoll das Leben ist!
Wie ein Pfeil schoss das Boot durch die Bucht von Lysaker hinaus auf die Fahrt, deren Einsatz das Leben war, wenn nicht mehr.
Endlich ist alles fertig. Der Augenblick ist gekommen, auf den jahrelange, angestrengte Arbeit unaufhaltsam gerichtet war, mit ihm das Gefühl, dass alles so vorbereitet ist, dass sich das Gehirn endlich ausruhen darf.
Dampf schnaubend liegt die »Fram« in der Bucht von Piperviken und wartet auf das Signal, während die Barkasse, am Dyna-Leuchtfeuer vorüber, summend herankommt und anlegt.
Das Deck ist voller Menschen, die uns Lebewohl sagen wollen; jetzt müssen sie von Bord. Dann lichtet die »Fram« den Anker; schwer und tief geladen setzt sie sich langsam in Bewegung. Die Kais sind voller Menschen, die Hüte und Taschentücher schwenken. Schweigsam und still wendet die »Fram« den Bug nach dem Fjord und steuert behutsam und sicher an Bygdøy und Dyna vorbei in das Unbekannte hinaus, umschwärmt von Booten, Jachten und Dampfern.
Nun ein letzter Gruß dem heimatlichen Hause dort auf der Landzunge. Vorn der glänzende Fjord, Tannen- und Fichtenwald ringsum, lachendes Wiesenland und lang gezogene, waldbedeckte Gipfel dahinter. Durchs Fernrohr sehe ich eine weiße Gestalt auf der Bank unterm Fichtenbaum …
Das war der schwerste Augenblick der ganzen Fahrt.
Während der folgenden Tage kreuzten wir fortgesetzt nach Norden zwischen der Eiskante und dem Land. Das offene Wasser war anfangs breit, aber weiter nach Norden wurde es so schmal, dass wir manchmal die Küste sahen, wenn wir an der Eiskante wendeten.
In dieser Zeit kamen wir an vielen unbekannten Inseln und Inselgruppen vorüber. Hier hätte man Zeit haben müssen, eine Karte der Küste aufzunehmen. Unser Ziel aber