100.000 Tacken. Reiner HänschЧитать онлайн книгу.
Gänze bestaunen. Sie sieht aus wie … naja, eigentlich wie Winnetous Mutter, wenn ich sagen soll, was mir als Erstes durch den Kopf geht, als sie da so vor uns steht und böse lächelt. Dichtes, struppiges, schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten, umrahmt ihr kantiges, fast männliches und übertrieben gebräuntes Antlitz. Sie sieht aus, als wollte sie gleich zu einem Kostümfest aufbrechen – mit Indianerperücke und Kriegsbemalung. Nur den Tomahawk müsste sie noch eben aus der Küche holen, man weiß ja nie, und dann kann’s schon losgehen.
„Wass loss? Komme rein!“, befiehlt Frau Winnetou und wir gehorchen artig, um nicht direkt am Marterpfahl zu landen.
Und so tauchen wir ein in eine olfaktorische Wunderwelt aus Knoblauchküche, Aschenbecher, Fischresten und Kinderwindeln. Stark verbrannt riecht es auch.
Mir fällt der Kinderwagen unten im Flur ein. Ein kleiner, hoffnungslos rotzverschmierter Junge sieht uns ängstlich an und beginnt dann fürchterlich zu brüllen. Ärgerlich ruft Frau Göktürk nach hinten in eins der Zimmer: „Gönül, kommsstu? Deine kleine Bruder muss Schnauze halten. Sons weckt de Adnan. Habbisch Besuch.“
Ein etwa vierzehnjähriges weibliches Schlurfgespenst erscheint lustlos und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft kaugummikauend in einer der Türen, schenkt uns einen angeödeten Blick und zerrt dann das kleine brüllende Ungetüm in das Zimmer. Hinter der Tür hört man einen deutlichen Klatsch und das Brüllen verstummt augenblicklich, um sich dann aber wieder mindestens mit doppelter Lautstärke sirenenartig fortzusetzen. Man hat nur Luft geholt und neuen Anlauf genommen.
Ich sehe Steffi an und zucke mit den Achseln. Soll man sich schon dazwischenwerfen? Darf man sich überhaupt in die Erziehung anderer Familien einmischen? Wie erzieht der Türke? Vielleicht in grundlegenden Dingen etwas anders als wir. Keine Ahnung. Und um internationale Verwicklungen oder einen blutigen Indianerkrieg zu vermeiden, folgen wir also erst mal Herrn Dünkelöh ins Wöhnzimmer.
Außer einem gigantischen Monstrum von Flachbildfernseher, der eine dieser äußerst beliebten, recht lehrreichen und besonders lebensechten Nachmittagssendungen zeigt, in denen ganz schlechte Schauspieler so tun, als würden sie sich hassen und schon bald oder auch augenblicklich gegenseitig umbringen, kann man erst mal nicht viel erkennen, weil die Fenster des Zimmers mit blickdichten Wolldecken verhängt sind. Man ist also lieber privat bei den Göktürks. Kann ich verstehen.
Als sich unsere Augen an das flimmernde Halbdunkel gewöhnt haben, tauchen langsam und schemenhaft eine gemusterte bläuliche, nur ganz leicht abgeschabte und etwas bräunlich verkrustete Sitzgruppe für mindestens zwanzig Personen und ein Glastisch auf, der leider nicht mehr lange halten wird, weil er einen großen, langen Sprung hat. Trotzdem steht eine Menge leerer Flaschen darauf. Und noch hält er ja.
Die Sitzgelegenheiten sind über und über mit allerlei lustigen bunten Sachen und etwas Müll belegt, was nun mal zu einem lebendigen Haushalt gehört. Natürlich. Das ist ja bei uns auch nicht viel anders, denke ich. Steffi scheint leicht anderer Meinung zu sein, doch sie lächelt Frau Göktürk trotzdem freundlich zu.
„Wollen setzen?“, röhrt Winnetous Mutter, aber wir lehnen alle erschrocken und dankend ab. Nein, nein, das geht zu weit, wir wollen ja nur kurz mal …
Dann bekommen wir noch einen ebenfalls sehr schönen, aber auch fast gänzlich abgedunkelten Raum zu sehen, der das Schlafzimmer der Familienchefs darstellen soll und ein weiteres Zimmer, das auch dem Zweck des Schlafens dient, das wir aber gar nicht sehen können, weil Adnan – fumffe Monat – darin schläft. Und wir wollen ja nicht riskieren … natürlich. Das Bad ist leider gerade besetzt, weil der Nachbar, Herr Bolschakow, sein eigenes zur Zeit nicht benutzen kann, da irgendwas mit dem Abfluss nicht stimmt. Wir wollen es aber auch nicht sehen, schon gar nicht, nachdem Herr Bolschakow es benutzt hat. Ist sicher auch nicht nötig. Ist halt ein Bad.
Und dann geht es wieder zurück in den Flur und wir erkennen im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln in der Küche in einer Ecke ein offenes Feuer, über dem ein großer Topf hängt, in dem es kräftig brodelt. Lagerfeuer. Ich denke, hier wird sicherlich gerade ein schmackhaftes, typisch türkisches oder auch indianisches Gericht zubereitet.
Nun ja, etwas ungewöhnlich vielleicht, da die Küche doch sicher auch über einen funktionierenden Herd verfügt, auf dem man Wasser zum Brodeln bringen könnte, aber vielleicht kennen wir uns ja nur nicht gut genug mit der fremdländischen Kochkunst aus und man will sich da ja nicht gleich einmischen. Es ist sicher eine ganz besondere Köstlichkeit, die die Familie an ihre ferne Heimat erinnert, die sich auch nur so zubereiten lässt und die heute Abend bei einer politischen Diskussionssendung oder einem Tierfilm vor dem Riesenfernseher verspeist wird. Aber vielleicht habe ich das auch nicht richtig gesehen mit dem Feuer. Wahrscheinlich.
Ach, ist das schön. Familie, Kinder, gemeinsam kochen …
Herr Dunkeloh schließt mit weit aufgerissenen Augen in Lichtgeschwindigkeit die Küchentür und raunt Frau Göktürk sehr aufgebracht etwas zu. Ich höre nur so was wie „… verrückt geword’n?“ und „… abfackeln?“, und Frau Göktürk sagt nur: „Mach immer so!“ – und damit ist die Sache erledigt.
So. Vielen Dank, liebe Frau Göktürk. Wir haben ja alles gesehen. Sehr schön geschnitten, Ihre Wohnung übrigens. Vergessen Sie Ihren Tomahawk nicht, bevor Sie das Haus verlassen!
Als wir die Toilette der Göktürk-Wohnung passieren, dringt durch die fest verschlossene Tür eine geheimnisvolle, fremde Melodie. Es ist etwas Russisches, und wenn ich mich nicht täusche, heißt dieses Lied, das der Herr Bolschakow da voller Sehnsucht nach seinem schönen weiten Land vor sich hinsummt, „Die Wolgaschiffer“.
Ich glaube ja. Na, macht ja auch irgendwie Sinn.
Dann stehen wir wieder im Treppenhaus, und ein etwas desolat, aber ansonsten recht sympathisch aussehender, leicht dicklicher Mann wankt an uns vorbei. Sicher Herr Göktürk. Die Familie ist also bald wieder vereint. Wir grüßen freundlich, aber er stiert uns nur hohl an und kratzt sich im Schritt.
Herr Dunkeloh schwitzt schon wieder und wirkt etwas hilflos.
„Tach, Härr Göktürk!“
Ich weiß gar nicht, warum er so nervös ist. Läuft doch alles. Das Haus gefällt uns, oder? Steffi?
„Die Leute sind sähr nett, müss’n Se wissen, verährtes Ehepaar Knippschild. Die Göktürks. Sähr kulltiviert, woll. Vier Kinder. Sähr ruhich und freundlich. Zahl’n immer pünktlich, woll … Se müsst’n halt ma wieder aufräum‘ und … naja … manche ham es eb’n nich so mitte Ordnung. Se wiss’n schon.“
Ja, ja, natürlich. Bei uns ist auch nicht immer alles aufgeräumt.
„Abba de Substanz is’ gut.“
Na bitte, da haben wir es doch wieder. Und es beruhigt auch tatsächlich, das zu hören und zu wissen. Die Substanz ist gut!
Gegenüber können wir die Wohnung leider gerade nicht betreten, weil ja der Nachbar, Herr Bolschakow, momentan auf dem Klo von Frau Göktürk sitzt und sonst - laut Herrn Dunkeloh - keiner zuhause ist. Okay, macht ja nichts. Wenn die Substanz gut ist.
Dann geht es eine Etage höher. Die Raufaser des Treppenhauses ist in grellem Grün gehalten, fast Neongrün, was uns nach einer Weile eigentlich doch sehr gut gefällt, wenn man es sich richtig überlegt und die Augen sich erst mal daran gewöhnt haben. So freundlich irgendwie. Frisch, oder, Steffi? Man hört schon jetzt von oben die Geräusche einer größeren Menschenansammlung mit Marschmusik und von unten Herrn Göktürk, wie er an die Tür seiner Wohnung poltert und Frau Winnetou noch mal den Spruch von eben sagt: „Haust du ab, du Arsch. Stinks du wieder Ouzo un Takis! Komms du ssuruck, wenn nüschtern!“
An der Tür, vor der wir nun stehen, steht auf einem handschriftlichen, ehemals sorgfältig mit Tesafilm angebrachten Zettel Panagopou … Der Rest ist abgerissen.
„Panagopoulos“, sagt Herr Dunkeloh hastig, aber schon merklich geschwächt. „Dat sin de Betreiber von dem griechischen Restaurang da unt’n, woll. Die sin getz da unt’n. Die sin gar nich da, verstehen Se?“, sagt er noch und schüttelt heftig den Kopf, um es