Die Zukunft erfinden. Nick SrnicekЧитать онлайн книгу.
es sich, ungeachtet der den Fabrikbesetzungen zuteil gewordenen Aufmerksamkeit, um eine relativ überschaubares Phänomen: Nach sehr optimistischen Schätzungen ging es um rund 250 Fabriken mit insgesamt vielleicht gerade einmal 10 000 Beschäftigten.114 Bei einer Erwerbsbevölkerung von über 18 Millionen Erwerbstätigen machten die in den kollektiv geleiteten Betrieben Beschäftigten einen Anteil von deutlich unter 0,1 Prozent aus.
Doch die Fabriken spielten nicht nur in der argentinischen Wirtschaft eine untergeordnete Rolle, sondern blieben zwangsläufig auch in kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet. Der Traum, Letzteren zu entgehen, ist nichts weiter als ein Traum. Unter dem Gebot, Profit zu erwirtschaften, sind Unternehmen unter der Leitung von Arbeitern unter Umständen genauso ausbeuterisch und umweltzerstörend wie jedes andere Industrieunternehmen, doch fehlen ihnen die Vorteile der Massenproduktion. Solche Probleme tauchen im Zusammenhang mit genossenschaftlichen Betrieben immer wieder auf, die Erfahrungen beschränken sich nicht auf Argentinien, sondern finden sich ähnlich auch im zapatistischen Zusammenhang oder auch sonst überall in Amerika.115
Sehen wir Argentinien jedoch als ein Modell eines potentiellen postkapitalistischen Wegs an, bleibt – jenseits aller organisatorischen Schranken – das Hauptproblem, dass in den genannten Ansätzen kein Gegenentwurf zum Kapitalismus steckt, sondern sie lediglich Mittel waren, um dessen Krise zu dämpfen. Als die Wirtschaft sich zu erholen begann, ging die Beteiligung an den Asambleas drastisch zurück und die Alternativökonomie schrumpfte.116 Die infolge der Krise auftretenden horizontalistischen Bewegungen hatten auf den Zusammenbruch des Bestehenden reagiert und Notfallmaßnahmen ergriffen; es gab keine relativ reibungslos funktionierende Ordnung mehr, der sie den Kampf ansagen konnten. Tatsächlich zeigen zeitgenössische horizontalistische Bewegungen häufiger die problematische Neigung, eine Notsituation – nach einem Hurrikan, Erdbeben oder ökonomischen Crash – als mögliches Fundament einer besseren Welt anzusehen.117 Doch fällt es einigermaßen schwer nachzuvollziehen, wie die Verhältnisse nach einer Katastrophe ein Modell für die Verbesserung der Lage einer großen Mehrheit der Weltbevölkerung abgeben könnten. Eine Politik, die einzig Ausdruck des Zusammenbruchs einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist, präsentiert sich nicht als Alternative, sondern entspringt eher einem spontanen Überlebensinstinkt. Ähnlich problematisch ist auch die Tendenz horizontalistischer Bewegungen, politisches Potential in der Art und Weise zu entdecken, wie das Alltagsleben »horizontal« organisiert ist – beim Zusammenkommen mit Freunden, bei Partys, Festivals etc.118
Doch auch derartige Ereignisse sind auf den Rahmen überschaubarer Gemeinschaften beschränkt und geben, wichtiger noch, für weitergehende politische Ziele kein brauchbares Vorbild ab. Das argentinische Beispiel zeigt es: Alltägliche Organisationsweisen mögen nützlich sein, um im Stadtviertel das grundlegende Überleben zu sichern und die Solidarität untereinander zu stärken. Doch horizontalistische Politik hat erhebliche Mühe, sich gegen stärker organisierte Interessen zu behaupten, länger durchzuhalten, sobald Normalität im Grundsatz wiederhergestellt ist oder auch weiter gesteckte und langfristige politische Ziele wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung, höhere Bildung oder soziale Sicherheit zu verfolgen. In außergewöhnlichen Situationen und im Hinblick auf unmittelbar erreichbare Ziele bleiben horizontalistische Ansätze sinnvoll, doch werden sie weder die Gesellschaft umwälzen noch den globalen Kapitalismus ernsthaft infrage stellen.
Wie die Beispiele der Nachbarschaftsversammlungen und der von den Beschäftigten übernommenen Betriebe in Argentinien erkennen lassen, greifen maßgebliche Organisationsmodelle horizontalistischer Politik zu kurz. Häufig handelt es sich um reaktive Taktiken, die als Gegenentwürfe in den antagonistischen Verhältnissen des globalisierten Kapitalismus nicht ausreichen. Diese Grenzen des Horizontalismus wurden auf theoretischer Ebene im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts, nicht zuletzt mit Blick auf Bewegungen wie Occupy und die in Argentinien, verschiedentlich erörtert. Zwar bleibt als eine wichtige Leistung horizontalistischer Taktiken anzuerkennen, dass sie in der Lage sind, in überschaubaren sozialen Zusammenhängen Solidarität zu organisieren und Ausbeutungsverhältnisse zeitweilig zu unterbrechen, doch beschränkt die bisweilen fetischisierte Festlegung auf Konsens, direkte Aktion und insbesondere präfigurative Politik die Möglichkeiten, sich zu verbreitern und bestehende gesellschaftliche Strukturen zu ersetzen.
Lokalismus
Die Vorliebe für das Lokale tritt weniger radikal auf als der Horizontalismus, ist darum aber nicht weniger allgegenwärtig. Die Ideologie des Lokalismus ist weit über die Linke hinaus anzutreffen, mal prokapitalistisch, mal antikapitalistisch, manchmal auch radikal gefärbt durchzieht sie den kulturellen Mainstream und ist zu einer Art politischen Common Sense geworden. Allen Varianten gemeinsam ist der Glaube, die Abstraktheit und Unüberschaubarkeit der modernen Welt sei eine der Wurzeln unserer heutigen politischen, ökologischen und ökonomischen Probleme, sowie die Überzeugung, eine Lösung biete die Rückkehr zum menschlichen Maß nach dem Motto »Small is beautiful«.119 Ein Handeln im kleinen Rahmen, die Privilegierung lokaler Ökonomien, überschaubarer Gemeinwesen, unmittelbarer und persönlicher gesellschaftlicher Beziehungen – all dies kennzeichnet eine lokalistische Weltsicht. In Zeiten, da die meisten der im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten politischen Strategien und Taktiken stumpf und untauglich erscheinen, lockt der Lokalismus mit einer verführerischen Logik. In all seinen verschiedenen Versionen, vom gemäßigt konservativen Kommunitarismus bis zu Bewegungen für ethischen Konsum, von einem auf Mikrokredite setzenden Developmentalismus bis zu manchen Spielarten des heutigen Anarchismus verspricht der Lokalismus, jeder und jedem Einzelnen Gelegenheit zum konkreten Handeln zu bieten und politische Interventionen zu ermöglichen, die sich unmittelbar und spürbar auswirken.120 Doch ein solches Gefühl größerer individueller Gestaltungsspielräume kann irreführen. Denn ein Problem des Lokalismus besteht darin, dass er durch den Versuch, die großen systemischen Unübersichtlichkeiten auf die leichter handhabbare Sphäre lokaler gesellschaftlicher Zusammenhänge herunterzubrechen, letztlich die strukturelle Vernetztheit der heutigen Welt leugnet. Zusammenhänge wie die globale Ausbeutung, der weltweite Klimawandel, die wachsende Überbevölkerung und die wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus lassen sich nicht lokalisieren: Sie sind in ihrem Erscheinungsbild abstrakt und weisen eine komplexe Struktur auf, und obschon sie jeden Ort betreffen, zeigen sie sich in all ihren Facetten niemals nur in einer bestimmten Region. Es sind systemische und abstrakte Probleme, die nach systemischen und abstrakten Antworten verlangen.
Viele Spielarten des rechten populistischen Lokalismus lassen sich (wie etwa der sezessionistische Libertarismus) als rückschrittliche Macho-Phantasien durchschauen und zurückweisen, als zynische ideologische Verbrämung von Austeritätspolitik (wie das von den Konservativen in Großbritannien aufgebrachte Konzept der »Big Society«) oder als unverblümt rassistisch (so wenn Nationalisten und Faschisten Migranten für strukturelle ökonomische Probleme verantwortlich machen); weit weniger gründlich wird indes der linke Lokalismus hinterfragt. Mit zweifellos den besten Absichten liebäugeln radikale und Mainstream-Linke mit lokalistischen politischen und ökonomischen Positionen, allerdings zum eigenen Schaden. Im Folgenden sollen zwei populäre Varianten eines linken Lokalismus kritisch beleuchtet werden – das Eintreten für lokale Ernährung und für eine lokale Ökonomie –, weil sie beispielhaft auf zwei recht unterschiedlichen Feldern die Problematik des Lokalismus verdeutlichen.
Lokale Ernährung
Weit über einschlägige Kreise hinaus dominieren in jüngerer Zeit lokalistische Positionen die Debatte über die Produktion, die Distribution und den Konsum von Lebensmitteln. Am einflussreichsten sind dabei zwei eng miteinander verwandte Tendenzen: Slow Food und der sogenannte Locavorismus, der die Beschränkung auf regionale Lebensmittel propagiert. Die Slow-Food-Bewegung geht in ihren Ursprüngen auf Mitte der 1980er Jahre zurück, als sich insbesondere in Italien Protest gegen das immer weitere Vordringen von Fast-Food-Ketten regte. Wie der Name schon nahelegt, steht Slow Food für all das, was es bei McDonald’s nicht gibt: regionale Lebensmittel, traditionelle Rezepturen, langsamen Genuss und eine sachkundige Zubereitung.121 Es ist eine Ernährung, die die Merkmale eines entschleunigten Lebensstils verkörpert und verinnerlicht, gegen die Wechselfälle des schnelllebigen