Unbestreitbare Wahrheit. Mike TysonЧитать онлайн книгу.
Rede. Cus erinnerte mit seiner flammenden Verteidigungsrede an den Bürgerrechtler Clarence Darrow.
„Sie behaupten also, Sie hätten das Buch einfach fallen lassen und es habe Mike zufällig getroffen“, nahm Cus den Lehrer in die Mangel. „Aber wenn Sie, wie Sie behaupten, einfach das Buch fallen ließen, wie konnte es dann durch die Luft fliegen und Mike treffen? Es wäre einfach zu Boden gefallen und hätte niemanden verletzt.“
Cus ging auf und ab, blieb des Öfteren kurz stehen und deutete theatralisch auf meinen Lehrer, als wäre er der Schuldige.
Man einigte sich auf einen Kompromiss: Ich musste so lange nicht mehr zur Schule gehen, solange ich von einem Privatlehrer unterrichtet wurde. Cus traf es schwer, dass ich von der Schule abgehen musste. Er hatte nämlich bereits eine große Abschlussparty für mich geplant. Auf dem Heimweg von der Highschool warf ich Cus einen Blick zu. „Nun denn, ich geh jetzt in die Sporthalle.“
Er erwiderte meinen Blick und sagte lediglich: „Viel Spaß!“
Es näherte sich der Juni des Jahres 1982, und es wurde Zeit für mich, meinen Titel bei der Junior Olympiade zu verteidigen. Inzwischen war mir mein Ruf bestimmt vorausgeeilt. Die Eltern meldeten ihre Kinder vom Wettkampf ab, aus Angst, dass diese gegen mich kämpfen müssten. John Condon, einer der Veranstalter des Golden Gloves-Amateurboxturniers, hatte mich nicht antreten lassen. „Ich habe dich kämpfen sehen. Du bist zu aggressiv, ich kann dich nicht gegen diese Kids kämpfen lassen. Du würdest sie niedermachen.“
Meine zweite Junior Olympiade fing gut an. Wir befanden uns wieder in Colorado, und bei meinen Vorrundenkämpfen hatte ich alle meine Gegner k.o. geschlagen. Es stand die Endrunde an, in der ich meinen Titel verteidigen wollte. Doch dann kam der Druck. Ich sah all die Kameras, und meine Unsicherheiten holten mich wieder ein. All diese Box-Offiziellen fanden große Worte für mich. Ich dachte, das sei wunderbar, aber es würde alles bald vorbei sein, denn ich war schmutzig, dreckig. Trotzdem wollte ich mich zu Brownsville bekennen. Cus hatte mir x-mal vorgeleiert, dass „die Leute in Brownsville meiner Mutter die Einkaufstaschen nach Hause tragen würden“, wenn ich auf ihn hörte.
Ich konnte mit diesem riesigen Druck nicht umgehen. Vor der Endrunde nahm mich Cus zur Seite.
„Mike, das ist die Wirklichkeit. Siehst du all die Menschen?“, und er deutete auf die Ringrichter, Reporter und Boxfunktionäre in der Halle. „Wenn du verlierst, mag man dich nicht mehr. Wenn du nicht sensationell bist, mag man dich auch nicht mehr. Ich war bei allen beliebt. Als ich 50 war, waren alle jungen, schönen Frauen hinter mir her. Jetzt bin ich ein alter Mann, und niemand ist mehr hinter mir her.“
Zehn Minuten vor meinem Kampf brauchte ich nochmal frische Luft. Teddy begleitete mich.
„Mike, entspann dich“, sagte er.
Ich schaffte es nicht und bekam einen hysterischen Weinkrampf. Teddy legte den Arm um mich.
„Es ist doch nur ein Boxkampf unter vielen. In der Sporthalle hast du doch schon bessere Jungs besiegt“, versuchte er, mich zu trösten.
„Ich bin Mike Tyson …“, schluchzte ich, „ … alle mögen mich.“
Ich brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus. Ich wollte eigentlich sagen, dass mich niemand mehr mögen würde, wenn ich verlöre. Teddy tröstete mich und riet mir, ich solle mich nicht von meinen Gefühlen beherrschen lassen.
Als ich in den Ring trat, wartete mein Gegner schon auf mich. Es war ein 1,90 Meter großer Weißer namens Kelton Brown. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Wir traten in die Mitte des Rings, um die Belehrung zu hören. Ich starrte ihn derart bösartig an, dass der Ringrichter mich zurückstieß und mir eine Warnung erteilte, noch bevor der Kampf begann. Der Gong ertönte, und ich griff ihn sofort an. Innerhalb einer Minute verpasste ich ihm einen solch meisterhaften Schlag, dass er das Handtuch warf. Ich hatte jetzt zum zweiten Mal den Titel bei der Junior Olympiade gewonnen.
Nach meinem Sieg interviewte mich der Fernsehreporter direkt im Ring.
„Mike, Sie sind sicherlich mit der bisherigen Entwicklung Ihrer Karriere sehr zufrieden?“
„Nun, ja, das bin ich. Ich kämpfe hier gegen Kids und bin genauso alt, aber mehr auf Draht als sie. Ich bin disziplinierter. Ich habe gelernt, mental mit meinen Problemen umzugehen und nicht körperlich. Das ist ein Vorteil, den ich ihnen gegenüber habe.“
„Was für ein Gefühl hatten Sie, nachdem Sie Brown besiegt hatten?“
„Ich stieg in den Ring, um meinen Job zu erledigen. Ich kann nichts Negatives über meinen Gegner sagen. Er hat seine Sache gut gemacht. Er war nur leicht überfordert. Aber ihm gebührt Lob wegen seiner Anstrengungen“, sagte ich.
Als ich nach Osten zurückfuhr, war mein Ziel Brownsville. Alle dort hatten im Fernsehen gesehen, wie ich Kelton Brown k.o. geschlagen hatte. Viele der Jungs, die mich einst schikaniert hatten, sprachen mich auf der Straße an.
„Hi, Mike, brauchst du was? Lass es mich wissen, wenn ich etwas für dich tun kann“, erklärten sie mir.
Einst hatten sie mich mit Fußtritten traktiert, jetzt krochen sie mir in den Arsch.
Aber am meisten interessierte mich die Meinung meiner Mom. Ich wollte meine Begeisterung mit ihr teilen.
„He, Mom, ich bin der größte Boxer der Welt. Es gibt weit und breit keinen Mann, der mich besiegen könnte“, sagte ich.
Meine Mutter wohnte in einem feuchten, baufälligen, heruntergekommenen Mietshaus und starrte mich nur verständnislos an, als ich von mir sprach, als sei ich Gott.
„Erinnerst du dich an Joe Louis? Es gibt immer noch einen Besseren, mein Sohn“, sagte sie.
Ich starrte meine Mom verständnislos an.
„Das wird mir nie passieren“, erwiderte ich eiskalt. „Ich bin besser als jeder andere.“
Ich meinte es todernst, weil Cus mich einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Meine Mutter hatte mich noch nie so erlebt. Ich war immer mies und hinterhältig gewesen. Jetzt besaß ich Würde und Stolz. Früher roch ich nach Gras und Alkohol. Nun war mein Körper muskulös, und ich war bereit, die Welt zu erobern.
„Ma, auf der ganzen Welt gibt es keinen Mann, der mich besiegen kann. Du wirst sehen, dein Junge wird Weltmeister werden“, prahlte ich.
„Mein Sohn, du musst erst mal Demut lernen. Du bist nicht demütig.“ Sie schüttelte den Kopf.
Ich zog die Zeitungsausschnitte aus meiner Tasche, auf denen zu sehen war, wie man mir die Goldmedaillen überreichte, und gab sie ihr.
„Da, Mom, lies, was sie über mich schreiben.“
„Ich werde es später lesen“, wehrte sie ab.
Den Rest des Abends sagte sie kein Wort mehr und murmelte lediglich „hm, hm“. Sie sah mich besorgt an, als wollte sie sagen: „Was haben diese Weißen mit dir angestellt?“
Dann kehrte ich nach Catskill zurück und kam mir vor wie auf dem Gipfel der Welt. Dort wurde ich behandelt wie ein verwöhntes Kind der oberen Mittelschicht. Ein paar Monate später berichtete mir Cus, dass meine Mutter krank sei. Ich erfuhr keine Details, aber meine Sozialarbeiterin hatte herausgefunden, dass bei meiner Mutter Krebs im Endstadium diagnostiziert worden war. Am selben Tag, als Cus mich informierte, rief mich auch meine Schwester an.
„Besuch Mommy“, sagte sie, „es geht ihr gar nicht gut.“
Ich hatte meine Mutter ein paar Wochen vor dem Anruf meiner Schwester gesehen. Sie hatte wohl einen leichten Schlaganfall erlitten und ein Augenlid hing schlaff herunter, aber ich wusste nicht, dass sie Krebs hatte. Ich war 16, und Krebs war mir lediglich als Tierkreiszeichen bekannt. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, kam aber nicht auf die Idee, dass es etwas mit dem Tod zu tun haben könnte.
Aber als ich sie in der Klinik besuchte, bekam ich einen Schock. Meine Mutter lag wimmernd im Bett, hatte Krämpfe und war nicht mehr ganz bei sich. Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Ihre Augen waren eingefallen, ihre Kopfhaut