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Kranichtod. Thomas L. ViernauЧитать онлайн книгу.

Kranichtod - Thomas L. Viernau


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gezählt.

       Die Großvögel sind ausgesprochen scheu. Glücklich kann sich derjenige schätzen, der den Tanz der stolzen Vögel schon einmal beobachten konnte.

       In den letzten Jahren hat ein regelrechter Kranichtourismus eingesetzt. An den Rastplätzen der Kraniche kann man im Spätherbst zahlreiche Autos mit den verschiedensten Kennzeichen stehen sehen. Mit gebührendem Respekt nähern sich die Kranichfreunde ihren Lieblingen mit Teleobjektiven und Feldstechern.

       Die Gemeinden haben viele ehemals landwirtschaftlich genutzte Flächen zu Landegebieten für die Zugvögel erklärt und so ideale Rastplätze für die Kraniche geschaffen. Kranichgucken ist inzwischen eine Art Volkssport geworden. Niemanden würde es einfallen, diese schönen Tiere zu ärgern oder gar zu jagen ...

      Im Linumer Bruch

      Sonntag, 15. Oktober 2006

      Dieser Morgen schien einen der typischen Herbsttage hier im Luch zu gebären. Dichter Nebel hatte sich auf die Wiesen und Felder gelegt und eine undurchsichtige Welt geschaffen, in der Geräusche und Schatten dominierten. Vom Boden stieg eine feuchte Kühle auf, die alles durchdrang.

      Mitten auf der großen Wiese vor der alten Eisenbrücke über den Alten Rhin konnte man zwei Schatten erkennen. Nur langsam bewegten sich die beiden Schatten vorwärts. Der Nebel schien die Bewegung zu schlucken. Nach ein paar Minuten wurden die Schatten zu den dunkel umrissenen Konturen zweier Männer. Ein etwas größerer, hagerer Mann im Parka und mit einem Schlapphut und ein untersetzter, kleiner Mann in einer karierten Wolljacke mit Kapuze stapften auf einem nur wenigen Naturfreunden bekannten Trampelpfad durchs Luch. Sie schienen in eine lebhafte Unterhaltung vertieft. Der dichte Nebel schluckte ihre Stimmen, aber die heftigen Armbewegungen ließen nur diesen Schluss zu.

      Über der Nebelbank war ein Klangteppich aus einer überirdischen Welt zu vernehmen. Langgezogene, seltsam melancholische Töne, unterbrochen von schrillen Pfiffen. Pausen schien dieses Engelsorchester nicht zu kennen, dennoch war ein unverkennbarer Rhythmus in dieser Klangwelt auszumachen. Die beiden Gestalten im Nebel schienen den Klängen zu folgen. Einer der beiden hatte ein geheimnisvolles Kästchen an einem Gurtband umgehängt und eine etwas sperrige Antennenkonstruktion in seiner rechten Hand, mit der er sich langsam drehte und so die Richtung bestimmte.

      Zielstrebig bewegten sich die beiden Schatten durch den Nebel zu den Engelsstimmen. Etwas schien die Aufmerksamkeit der beiden von dem Konzert abzulenken. Der hagere Mann eilte auf eine Stelle zu, die wie durch ein Wunder, vom Nebel verschont worden war.

      Was er dort sah, ließ ihn erstarren. Sein etwas kleinerer Begleiter war inzwischen ebenfalls herangekommen. Der musste sich gleich wegdrehen. Das, was sich da auf dem Wiesenboden bot, ließ ihn sich übergeben.

      Auf einer Fläche von vielleicht acht mal acht Metern lagen die Kadaver mehrerer Kraniche. Allen war der Hals mit einem scharfen Messer durchtrennt worden. Überall waren Blut und Federn. Es musste ein grässliches Gemetzel gewesen sein. Die Tiere hatten nicht fliehen können, denn ihre Beine hatten sich in ausgelegten Schlingen verfangen. In ihrer Todesangst hatten sie sich gegenseitig behindert und verletzt. Der hagere Mann holte seine Kamera hervor und fotografierte stillschweigend die Details des entsetzlichen Blutbads.

      Erschüttert schaute er auf seinen kalkweiß gewordenen Partner. Wer machte denn so etwas? Diese Vögel wurden von allen Menschen gemocht. Sie taten niemandem etwas zuleide und ihre Gesänge verbreiteten eine ganz spezielle Art von Glücksgefühlen. Und dann so etwas!

      Die beiden Wanderer sahen sich kurz an. Ein stilles Einverständnis schien sich da zwischen den beiden Männern einzustellen. Dieser Frevel musste publik gemacht und diejenigen, die dafür verantwortlich waren, einer gerechten Strafe zugeführt werden.

      Langsam trotteten die zwei davon, beladen mit einer unsichtbaren Last, die ihnen Energie entzog und sich in ihre Seele fraß.

      Linthdorfs Wochenende

       Etwas Erstaunliches über wachsame Kraniche

      

       Bereits bei den alten Griechen taucht der Kranich als besonders wachsames und kluges Tier auf. Er wird oft mit einem Steinchen im Schnabel dargestellt. Das Steinchen soll ihn daran hindern, zu trompeten und so die Aufmerksamkeit von bösen Räubern, wie etwa dem Adler, auf sich zu lenken.

       Bei den Römern hatte dieser alte Mythos des »wachsamen Kranichs«, auf Lateinisch »Grus Vigilans«, ihn zum Symbol der römischen Tugenden »Vigilantia« (militärische Vorsicht), »Prudentia« (vernünftiges Handeln), »Perseverantia« (Beharrlichkeit) und »Custodia« (Sorgfalt) werden lassen.

       Auf altrömischen Bildmotiven erscheint nun der Kranich mit einem Stein in der angezogenen Kralle. Sollte er einschlafen, würde er sofort vom Geräusch des herabfallenden Steins geweckt werden. Ein Motiv, das bis ins Mittelalter fort lebte. Viele Häuser und Burgen hatten solche Kranichbilder am Giebel oder am Portalbogen, um so die Wachsamkeit der Bewohner anzudeuten. In Otterndorf, einem kleinen Städtchen an der Nordseeküste, steht das »Kranichhaus«, an dessen Giebel folgender Spruch erhalten geblieben ist:

       Der Kranich hält den Stein,

       des Schlafs sich zu erwehren.

       Wer sich dem Schlaf ergibt,

       kommt nie zu Gut und Ehren.

       Der Theologe Ambrosius, der auch als einer der wichtigsten Kirchenväter gilt, verwies in seinen Schriften auf das Gleichnis des wachsamen Kranichs für die Furcht vor Gott zum Schutz gegen Sünde und Teufelswerk. Das Fallen des Steins habe demnach eine ähnliche Wirkung wie das Läuten der Kirchenglocken. Die Menschen sollten sich Ambrosius zufolge mehr an den Kranichen orientieren und deren Sozialverhalten kopieren, wobei die Stärkeren die Schwächeren unterstützen müssten, ganz so, wie er es bei den Kranichen beobachtet hatte.

      I

      Linumer Teiche

      Sonnabend, 21. Oktober 2006

      Die Fahrt ins Linumer Bruch hatte Linthdorf schon lange geplant. Jedes Jahr fuhr er mindestens drei bis vier Mal hierher. Nicht nur die unzähligen Vögel am Himmel und auf den Feldern hatten es ihm angetan. Er liebte diese kurze Zeitspanne des Jahres, in welcher der Herbst noch einmal alle Reserven mobilisierte und eine Farbenpracht entwickelte, die von einem ganz besonderen Reiz war. Linthdorf war passionierter Hobbyfotograf. Zusammen mit seinem alten Freund Freddy Krespel und seinen beiden Söhnen, die inzwischen auch mit kleinen Digitalkameras ausgerüstet waren, zog es ihn die weiten Ebenen der brandenburgischen Luche. Ein spezieller Höhepunkt dieser Herbstausflüge war das Kranichgucken.

      Irgendwann vor sieben oder acht Jahren war er auf diese eleganten Flieger aufmerksam geworden. Dicht über ihm waren ein paar Kraniche in einem großen Bogen eingeschwebt und dann mit wenigen Flügelschlägen auf der Wiese nur knapp fünfzig Meter vor ihm gelandet. Linthdorf fühlte sich plötzlich eigenartig glücklich und zufrieden. Als ob ihm eine schwere Last von der Seele fiel. Minutenlang beobachtete er den Tanz der großen Vögel. Er wusste, dass diese kurzen Augenblicke etwas besonders Seltenes waren. Normalerweise kam man an die scheuen Tiere nur auf eine Distanz von etwa dreihundert Metern heran. Die Kraniche achteten sorgsam darauf, dass dieser Sicherheitsabstand eingehalten wurde. Kam man näher, flogen sie davon. Aber irgendwie schien an diesem späten Nachmittag alles anders gewesen zu sein.

      Vielleicht hatten sie ihn nicht bemerkt. Linthdorf maß stattliche Zwei Meter und war auch sonst nicht zu übersehen. Mit seinem breitkrempigen Hut und dem schwarzen Mantel sah er aus wie eine riesige Vogelscheuche. Möglicherweise fühlten sie sich jedoch nicht von diesem Riesen bedroht und ignorierten deshalb seine Anwesenheit. Er hatte jedenfalls


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