Der gefesselte Dionysos. Patrik KnotheЧитать онлайн книгу.
Dionysos hatte jedoch keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen denn ein lautes Brüllen ließ ihn aufschrecken.
„SO! HAB ICH EUCH ERWISCHT!!!“ Die Stimme kam ihm schrecklich bekannt vor. Sie kam vom Baumhaus. Rasch machte er seine Hose zu und rannte zurück.
„Hab doch gewusst, dass ihr hier irgend n Unsinn macht … unseren schönen Wald verschandeln, ihr kleines Gesindel! Na warte, euch werd ich helfen …“
„NEIN!“, hörte er Apollon rufen.
Dionysos konnte schon von weitem den grünen Anglerhut und die massige Gestalt von Orthos erkennen. Er stand gegenüber von Apollon und beide hatten ein Ende ihrer neuen Tür in den Händen.
„Lass los, du kleiner Drecksack oder ich mach’ dir Beine!!“
„Die haben wir ganz neu gebaut!“, krächzte Apollon und sah seinen Gegenüber mit einer Mischung aus Angst und Verwirrung an.
Orthos Gesicht war rot angelaufen und von Wut verzerrt. Er schnaubte mit seiner von Pusteln besetzten Säufernase und stieß Apollon die Tür mit voller Wucht in den Magen.
„WAS? Du hast sie wohl nicht alle! Mach gefälligst was ein Erwachsener dir sagt“, schrie er während Apollon stöhnend zu Boden ging. Sophia stand wie festgefroren mit der Säge in der Hand da. An ihren vor Schreck geweiteten Augen liefen stumme Tränen hinab.
„Ich sollt zur Polizei gehen ihr kleinen Dreckskerle! Wo ist der andere? Der Schwarzhaarige! WO??“
Viele andere Menschen in seinem Alter hätten sich wohl versteckt und wären nie auf die Idee gekommen es zu einem Kampf kommen zu lassen; nicht so jedoch Dionysos.
Eine nie gekannte Welle des Zorns überkam ihn. Er rannte immer noch; genau auf Orthos zu. Sicher würde er gegen ihn verlieren, Schläge bekommen, doch in diesem Moment war ihm alles egal.
Orthos, der immer noch dabei war Apollon anzuschreien sah zu spät, dass jemand im Sprint auf ihn zu kam.
„DA! Du kleiner …“, bekam er gerade noch hinaus als ein Knie ihn mit voller Wucht auf die Brust traf. Dionysos hatte eigentlich auf sein Gesicht gezielt doch der Sprung war nicht hoch genug. Orthos fiel um und stieß ein Brüllen aus während Dionysos im Purzelbaum über ihn hinüber rollte und im nächsten Gebüsch landete.
Bevor er sich jedoch wieder fassen konnte, zog ihn eine kräftige Hand an den Haaren nach oben.
Ein Schrei entfuhr ihm als Orthos ihn aufrichtete und ein stechender Schmerz durch seinen linken Knöchel fuhr. Beinahe wäre er wieder umgefallen, aber die Pranke die seine Haare umklammerte hielt ihn oben. Orthos’ Gesicht war nur ein paar Zentimeter von seinem entfernt. Sein Hut war ihm vom Kopf gefallen und offenbarte die Glatze, auf der nur noch ein paar wenige, dunkle, fettige Strähnen zu sehen waren.
„So … Mit euch muss man also andere Seiten aufziehen, wie?“, flüsterte er keuchend und Dionysos roch seinen ekelhaften Atem.
„Lass ihn in Ruhe“, kam es in zitternden Lauten von Sophia.
„Schnauze, blödes Gör, sonst komm ich gleich zu dir!“ Er wandte sich wieder Dionysos zu, der einen erneuten Schrei ausstieß. Das Brennen im Knöchel wurde unerträglich. Er kippte zur Seite doch Orthos’ Faust hielt ihn oben.
„Wird Zeit, dass euch mal jemand Manieren beibringt. Wie heißt du kleiner Bastard?“ Dionysos gab ihm keine Antwort; versuchte nur den Schmerz zu kontrollieren und dem Scheusal direkt in die Augen zu sehen. Warum das wichtig war begriff er nicht; er tat es ganz intuitiv als gäbe es keine andere Möglichkeit.
„WIE HEIßT DU?“, schrie der Alte nun völlig außer Kontrolle und Dionysos wurde an seinen Haaren hin und her geschüttelt. Wieder antwortete er nicht. Das dicke Gesicht vor ihm bekam nun endgültig psychopathische Züge: ein leerer Ausdruck fern aller Menschlichkeit lag in Orthos’ weit aufgerissenen, kalten Augen während seine Gesichtsfarbe mit jeder Sekunde dunkler wurde.
Mit seiner freien Hand holte er weit aus. Er ließ sie auf Dionysos’ linke Gesichtshälfte knallen und schmiss ihn zurück in das Gebüsch aus dem er ihn gezogen hatte.
Schwer schnaufend hob er zuerst den mit Schweiß- und Ölflecken beschmutzten grünen Anglerhut und dann die Türe für das Baumhaus auf. Er sah sich um und hielt dann inne, als würde er erst jetzt begreifen was er gerade getan hatte. Orthos war es nicht gewohnt, dass Kinder solchen Widerstand leisteten. Normalerweise rannten sie weg wenn sie ihn sahen. Spätestens wenn er einen von ihnen in die Hände bekam ging das Betteln und Flehen der kleinen Angsthasen los. Aber dieser hier war anders. Direkt in die Augen hatte er ihm gesehen ohne die leiseste Spur der Verängstigung.
Doch Orthos beschäftigte sich nur kurz mit diesem seltsamen Gedanken. Er hatte erreicht was er wollte und seine Miene wurde wieder steinern.
„So, das wird mein Feuerholz für heute Abend“, sagte er mit einem Blick auf die Tür. „Jeden Tag komm ich jetzt her und nehm’ ein bisschen was von der Hütte mit. Wenn ich noch einmal einen von euch hier seh’, geh ich sofort zur Polizei. Lasst euch das eine Lehre s…“, ein Hustenanfall unterbrach ihn. Nach einigen Sekunden zog er den Rotz aus den Tiefen seiner Kehle und spuckte ihn genüsslich auf den Boden. Mit einem verächtlichen, drohenden Blick auf Sophia und den immer noch am Boden liegenden Apollon verabschiedete er sich und ging hustend aber gemächlich zurück Richtung Delphi.
Langsam begann Sophia ihre Glieder wieder zu spüren. Die Zeit schien still zu stehen. Der ganze Moment hatte etwas surreales, als wäre das eben geschehene lediglich die Ausgeburt einer dunklen Phantasie. Sie blickte um sich, noch immer mit der Säge in der Hand. Apollon drehte sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf den Bauch.
„Ist es schlimm?“, fragte sie ihn, ging jedoch schon Richtung Dionysos der noch immer im Gebüsch verborgen war.
„Es geht. Vielleicht eine Rippe gebrochen.“ Hier muss ich anmerken, dass seine Rippen alle in bestem Zustand waren. Der Leser kann sich denken warum Apollon so geantwortet hat.
„Der will zur Polizei gehen? Was für ein Monster! Unsere schöne Türe. Und jetzt will er unser ganzes Baumhaus verbrennen. Wir gehen sofort zur Polizei. Und zu unseren Eltern.“
„Nein, das werden wir nicht!“, kam eine Stimme aus dem Gebüsch. Ein Blätterrauschen und Stöhnen war zu hören und Dionysos stand wieder vor ihnen. Seine linke Gesichtshälfte war blutüberströmt und begann bereits dick anzuschwellen. Er hinkte zu Apollon und ließ sich neben ihm ins Gras fallen.
Sophia rannte an seine Seite und Dionysos sah ihr in die Augen. Es war das erste Mal, dass er sie anblickte und nicht nervös wurde. Ihre Schönheit und die Wärme ihrer Augen ließen ihn seine Wunden sofort vergessen. Er lächelte. „Alles ok. Ich bin nur umgeknickt.“
„Und was ist mit deinem Gesicht? Du musst zum Arzt.“
„Sieht schlimmer aus als es ist. Tut fast gar nicht weh. Ich wasch nachher alles aus und lege ein bisschen Eis darauf.“
Apollon sah seinen Freund entgeistert an. „Hallo? Wieso sollen wir nicht zur Polizei oder unseren Eltern gehen? Das ist Körperverletzung was der macht. Wie kann man nur so mies sein!? Wir müssen was gegen ihn unternehmen.“
Dionysos schaute in den Himmel. „Richtig. Wir müssen etwas gegen den unternehmen aber nicht unsere Eltern oder die Polizei. Und ich glaube ich weiß auch schon was …“
VIII
Dionysos machte ein Geheimnis aus seinem ‚was‘. Weder mit Apollon noch mit Sophia oder sonst wem sprach er darüber, nachdem er all seine Überzeugungskünste aufbringen musste seine Freunde davon zu überzeugen, die Geschichte, die sich an ihrem Baumhaus zugetragen hatte, vorerst niemandem zu erzählen. Er wolle warten „bis zur Zusammenkunft“.
Zusammenkunft ist vielleicht eine übertriebene Bezeichnung für ein Treffen von ein paar Kindern und Jugendlichen in Delphi, doch mir erschien es hier wichtig Dionysos eigenen