Der verborgene Dämon. Detlef AmendeЧитать онлайн книгу.
Ich sprang auch ganz aufgeregt umher und natürlich fragte ich, was denn los sei und wie das alles zusammenhänge. Sie erklärten alles geduldig, aber vieles – insbesondere die Hintergründe der akuten Gefahr – blieben mir schleierhaft. Wann würden die Chinesen zurückschlagen? Das kann nicht gut gehen. Würden sie Amerika mit Atomwaffen angreifen? Aber China griff trotz der Versetzung seiner Streitkräfte in den höchsten Alarmzustand und der Anordnung der Generalmobilmachung nicht ein, sondern brach stattdessen wenige Tage später die diplomatischen Beziehungen zu den USA vollständig ab. Deren Ansehen in der Welt war durch diese Aktion endgültig ins Bodenlose gerutscht. Die britischen und französischen Abfangjäger, die – ebenfalls mit Atomwaffen bestückt – mit schon laufenden Motoren in den europäischen Hangars bereitgestanden hatten, wurden wieder geparkt und unter ihren Planen versteckt. Man atmete auf und auch ich atmete mehrfach gut hörbar durch, obwohl ich nichts verstanden hatte. Nur die Bilder der zerstörten Städte in Syrien kamen mir erneut in Erinnerung.
Und dann wurde es Zeit, sich einer anderen Großwetterlage zuzuwenden, denn „Silke“ kam. Das Tiefdruckgebiet mit dem sympathischen Namen braute sich in den Wochen, in denen alle Aufmerksamkeit auf das Südchinesische Meer gerichtet war, fast unbemerkt über dem Atlantik zusammen. Durch das warme Ozeanwasser konnte das Tief Unmengen an Energie aufnehmen und war völlig unerwartet binnen weniger Stunden nach Osten bis an die europäische Westküste herangezogen. Am Abend zuvor flimmerten die eindringlichen Warnungen des Deutschen Wetterdienstes und die Aufforderung der Bundesregierung, die Bevölkerung solle zuhause zu bleiben und sich schützen, über die Mattscheibe. Den Eltern wurde angst und bange. Ich dagegen freute mich diebisch über einen schulfreien Tag und war gespannt, was passieren würde. Morgens gegen acht – tatsächlich wehte bereits ein sehr kräftiger Wind – fuhr Papa in den Baumarkt, um einige Holzbohlen zu kaufen, mit denen er die großflächigen Fenster unseres Hauses zu sichern gedachte. Aber es war nichts mehr zu holen. Er versuchte sein Glück in einem weiteren Baumarkt, aber hier hatten die Leute bereits in den Nachtstunden die verschlossenen Türen mit Gewalt aufgebrochen und den ganzen Laden gestürmt und ausgeräumt. Entnervt und wütend wegen der Verkehrsstaus in der Stadt und der Vergeblichkeit seiner Bemühungen kam er erst am späten Vormittag zurück. Derweil herrschte richtiger Sturm mit extremen Windstößen und uns blieb nur, die Gartenmöbel zu sichern und mit ein paar zusätzlichen Schrauben den Carport zu verstärken. Überall in der Nachbarschaft rannten die Leute mit zerzausten Frisuren umher, trugen irgendwelche Gerätschaften beiseite oder werkelten wie besessen an ihrem Hab und Gut. Gegen Mittag verdunkelten sich die Wolken immer mehr und die Orkanböen wurden unberechenbar. Unter verwehten Haaren und Klamotten zog Mama unterdessen mit letzter Kraft ein Fahrrad und einen alten Blumentopf ins Haus. Die Leute ringsum waren plötzlich alle verschwunden und schon flog mit einem großen Knall die Haustür ins Schloss. Papa rief mich. Alle im Haus? Gut. Der Himmel war mittlerweile fast schwarz. Überall begann ein bedrohliches, lautes Pfeifen. Einige Minuten später waren von draußen ohrenbetäubende Geräusche und mehrere gewaltige Schläge zu hören. Mir wurde die ganze Sache jetzt unheimlich. Papa rannte zum Fenster und ich behände hinterher. Dachziegeln waren auf die Terrasse gestürzt. Im gleichen Moment löste sich eines der recht undurchlässigen Zaunfelder an der Grundstücksgrenze aus seiner Verankerung, kam auf uns zu geflogen, krachte mit brachialer Gewalt genau neben dem Fenster, hinter dem wir standen, gegen die Hauswand. Das ohrenbetäubende Zerbersten und Kratzen war selbst bei dem mittlerweile heulenden Orkan zu vernehmen. Glück gehabt! Papa lief zum anderen Fenster und wurde blass. Das Auto stand schräg, schaukelte gewaltig hin und her und hatte etliche Kratzer und Beulen, in der Einfahrt polterte ein Haufen Müll umher und – das Dach vom Carport fehlte. Wahrscheinlich flatterten seine Reste zerborsten auf einem Nachbargrundstück oder auf der Straße herum. Der Orkan wurde immer stärker. Wieder rannte Papa, diesmal zum Notausschalter der Heizungs- und Elektroanlage. Draußen flog in etwa einem Meter Höhe ein Kinderwagen die Straße entlang, Mama schlug die Hände vors Gesicht. Panik übermannte mich. Ich flitzte die Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Niemand sollte mein Zittern bemerken. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Und dann setzte plötzlich Stille ein. Ich lauschte auf, wartete einen Moment angespannt und hörte dann Mama rufen. Okay. Schon kam sie die Treppe herauf und beruhigte mich. Sie und Papa hatten zuvor unendliche Minuten lang unter Aufbietung ihrer ganzen Kräfte die aus den Scharnieren gesprungene Terrassentür in ihrem Rahmen gehalten. Wenn der Sturm ins Haus gedrungen wäre, hätte er vermutlich etliche Fenster nach außen gedrückt und große Teile der Inneneinrichtung in Kleinholz verwandelt. Es war vorbei. Langsam kehrte das Tageslicht zurück, aber unsere Umgebung blieb gespenstisch leise. Ich ging mit Mama hinunter, um zu inspizieren, was hier alles zu Bruch gegangen war. Die Eltern setzten sich erstmal kurz an den Esstisch und atmeten durch. Papa hatte die lose Terrassentür mittlerweile an die Wand gelehnt und durch die Türöffnung hörte man, dass draußen zwar immer noch der Wind rauschte, aber keine Gegenstände mehr durch die Luft polterten. So plötzlich der Orkan gekommen war, so plötzlich war er wieder verschwunden. Wir schauten uns um. Im Haus war bis auf die Türscharniere an der Glaswand zur Terrasse nichts weiter kaputt gegangen, aber vor dem Haus und im Garten ruhte friedlich und unbewegt das Chaos aus Geröll, fremden Gerätschaften, Holzplanken, zerschlagenen Blumenkübeln und Resten von Dachziegeln. Papa meinte, das kriegen wir schon wieder hin. Aber das zerschrammte Auto und den Rest vom Carport musternd, schien Mama zu resignieren. Werden wir so viel Geld für all die Reparaturen aufbringen können? Erst am späten Nachmittag kamen dann auch die Nachbarn langsam wieder aus ihren Häusern. Die Straße belebte sich etwas, aber die Leute waren noch immer außer sich. Dabei sollte dies noch nicht alles gewesen sein, denn als Papa den Strom einschalten wollte, tat sich nichts. Noch einmal. Nein. Noch mal. Wieder nichts. Da erst wurde meinen Eltern bewusst, in welcher Lage wir uns befanden. Mama rannte in die Küche und öffnete den Wasserhahn an der Spüle. Wasser kam, die Erleichterung war förmlich greifbar. Wir hatten wenigstens etwas zu trinken und die Toiletten konnten benutzt werden. Dann beratschlagten sich Mama und Papa ausgiebig. Ich war immer noch aufgeregt, wollte auch mit helfen, konnte aber im Moment nicht viel tun. Bis zum Abend musste erstmal die Terrassentür wieder befestigt werden, um im Haus sicher zu sein. Der Strom könne jetzt tagelang wegbleiben, gab Papa zu bedenken und erwähnte, dass der Tank im Auto noch zu ungefähr einem Drittel gefüllt sei. Ohne Strom kein Kochen, kein Kaffee, kein Fernsehen, kein Radio, keine Information, kein Geld am Bankautomaten, aber auch kein Tanken, denn an den Tankstellen würden die Pumpen nicht mehr arbeiten. Wir versuchten, herauszufinden, ob die Versorgung mit Elektrizität sogar großflächig ausgefallen war. Dann würde auch die Versorgung mit Lebensmitteln in den Supermärkten nicht mehr reibungslos funktionieren und Tumulte und Plünderungen könnten entstehen. Mama prüfte die Vorräte in Kühlschrank und Gefrierfach – leider nicht sehr ergiebig, meinte sie. In der Zwischenzeit war Papa im Wohnzimmer dabei, einige Schrankfächer nach Batterien zu durchwühlen. Jetzt konnte ich helfen und brachte flugs aus meinem Kinderzimmer den kleinen Radiowecker, den ich vergangenes Jahr von Oma zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Er wurde unsere einzige zuverlässige Informationsquelle, denn unter den Leuten in der Nachbarschaft kreisten mittlerweile die wildesten Gerüchte. Jemand hatte erzählt, die Bundeswehr käme, ein anderer meinte, bis auch das Wasser wegbliebe, wäre nur eine Frage von wenigen Augenblicken. Die Batterien aus dem Wohnzimmerschrank gaben noch etwas her und so warteten wir auf die volle Stunde, um gemeinsam vor dem kleinen Radio die Nachrichten zu hören. Tief „Silke“ war von der französischen Atlantikküste aus nach Ostnordost gezogen und hatte dabei in ganz Mitteleuropa eine breite Spur der Verwüstung hinterlassen. In Frankreich, den Beneluxstaaten und in Deutschland waren weite Teile der Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen worden. Müde gingen wir zu Bett, konnten aber alle nicht so richtig schlafen. Immer wieder waren von der Straße laute Rufe und aus der Ferne die Sirenen der Rettungswagen und Polizeiautos zu hören. Noch während der Nacht richtete der Orkan schwere Schäden an der polnischen Ostseeküste an.
Am anderen Morgen saßen wir schon recht zeitig gemeinsam am Frühstückstisch, aßen weiches Toastbrot und tranken Wasser. Immerhin. Papa schaltete noch mal mein Radio ein und wir bekamen durch die inzwischen ununterbrochene Berichterstattung mit, dass die Stromversorgung wohl im Verlauf des darauf folgenden Tages wieder sichergestellt werden könnte. Ich fragte, was denn mit der Schule sei. Mama lachte und meinte, die nächsten Tage könne ich getrost zuhause bleiben. Papa räumte die Einfahrt frei und brachte unseren Kombi wieder zum Laufen. Garten und Terrasse sahen zwar immer noch aus wie eine große Müllhalde, aber wir konnten wenigstens losfahren