Beutezug. Petra GabrielЧитать онлайн книгу.
mehr gesehen, wusste nicht einmal, ob sich Kappe überhaupt noch an ihn erinnerte. Damals in Wendisch Rietz wäre er so gerne dabei gewesen, wenn Kappe mit seinem besten Freund Gottfried Lubosch, genannt Liepe, am Scharmützelsee Karl May nachspielte. Doch sie hatten den Jüngeren ungern dabeihaben wollen. Zwei Jahre Altersunterschied waren viel, wenn man erst zehn war.
Manchmal hatte er die beiden heimlich beobachtet, wenn sie sich mit Hilfe von Schlamm und Entenfedern in Winnetou und Old Shatterhand verwandelt hatten. Sie waren Blutsbrüder, hatten alle Abenteuer nachgespielt, die Karl May in seinen über sechzig Büchern beschrieben hatte. Auch jene, die im wilden Kurdistan spielten. Das wusste er genau. Denn ab und zu, wenn sie einen Schurken brauchten, hatten sie ihm großmütig erlaubt mitzumischen.
Seine Aufgabe war es gewesen, sich ohne allzu große Gegenwehr an den Marterpfahl binden und übel beschimpfen zu lassen. Er hatte es hingenommen. Nur, um wenigstens manchmal dabei sein zu dürfen.
Lempel lächelte unwillkürlich, die Falten um seine graublauen Augen vertieften sich. «Hadschihalefomarbenhadschiabulabbasinbhadschidawudalsgossarah», murmelte er vor sich hin. Dann seufzte er zufrieden. Es gab Dinge, die verlernte man nicht. Noch immer konnte er den Namen aussprechen, ohne zwischendurch Luft zu holen. Als Junge hatte er sich feierlich geschworen, sobald wie möglich nach Amerika auszuwandern und Trapper zu werden.
Doch dann hatte das Leben die Regie übernommen. Er saß jetzt hier bei Borsig und bildete aus. Nach Amerika würde er wohl so schnell nicht mehr kommen. Im Januar hatten die Amerikaner den Deutschen den Krieg erklärt. Und selbst Karl May war entzaubert, seitdem Lempel wusste, dass der Führer einen seiner Romane auf dem Nachttisch liegen hatte.
Kann ich ihm trauen? Diese Frage kreiste unablässig in Traugott Lempels Kopf und hinderte ihn daran, sich die richtigen Sätze für den Besuch Kappes zurechtzulegen. Er musste erst einmal auf den Busch klopfen und durfte nicht zu viel preisgeben.
Wieder zog er die Uhr aus der Tasche und drehte am Knopf. Doch, sie war aufgezogen, sie tickte. Der Minutenzeiger hatte sich um gerade mal zwei Striche weiterbewegt. Es waren nicht mehr als 120 Sekunden vergangen seit dem letzten Blick.
Er wagte viel - besonders in seiner Stellung. Lempel steckte die Uhr ein weiteres Mal weg und starrte auf die aufgeschlagene Akte vor sich auf dem Schreibtisch, aber ohne wirklich zu erkennen, was auf den Papieren stand. Die Schrift verfloss zu schwarzen Linien. Ein Mädchenkopf mit dunkelblonden langen Zöpfen und furchtsam aufgerissenen, tränenumflorten blauen Augen schob sich zwischen ihn und den Text. Gudrun Damaschke hieß sie. Sie hatte nicht lockergelassen.
Wie viel sollte er Kappe erzählen? Er durfte das Mädchen keinesfalls in Gefahr bringen. Sie vertraute ihm. Ebenso wie Hans. Sonst hätte der Junge ihm nicht von diesen Unterlagen berichtet. Andererseits war Kappe keiner, der sich mit nichtssagenden Floskeln abspeisen ließ. Zumindest war er das damals nicht gewesen. Und so sehr veränderte sich ein Mensch nicht. Der Kern blieb ein Leben lang gleich, das hatte ihn seine Erfahrung gelehrt. Und wenn es so war, dann war Kappe kein Verräter. Und auch kein Denunziant. Trotzdem, je weniger er wusste, umso besser. Für alle Beteiligten - nicht zuletzt für Kappe selbst.
Oder hielt es Kappe doch mit den Nationalsozialisten, und Trampe wusste es nur nicht? Das war doch immerhin möglich. Schließlich war Trampe Sozialdemokrat. Zumindest war er einer gewesen, bevor die Sozis verboten worden waren. Das zeigte er zwar nicht offen, er wollte schließlich weiterhin Aufträge als Elektriker bekommen. Und Trampe war gut, arbeitete genau, zuverlässig und schnell, wenn es einmal irgendwo klemmte. Er war bei einer kleinen Firma in der Ritterstraße angestellt, doch er hatte bereits mehrere Stellenangebote von Borsig bekommen. Das Reich brauchte Leute wie diesen Theodor Trampe an der Heimatfront, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Die Maschinen mussten auf Hochtouren laufen, besonders in kriegswichtigen Betrieben wie Borsig. Doch Trampe zog es vor, bei seiner Klitsche zu bleiben. Er wusste wohl, warum. Vielleicht gab es ihm bei Borsig inzwischen zu viele stramme Nazis.
Hermann Kappe war nie ein Sozi gewesen, soweit Lempel in Erfahrung hatte bringen können. Das hatte der Freundschaft zwischen dem Kommissar und dem Elektriker aber offenbar keinen Abbruch getan.
Andererseits hatten sich in den letzten Jahren schon ganz andere von Mitläufern zu Überzeugungstätern gewandelt. Einfluss konnte Menschen verändern, verführen, denn das Böse besaß eine große Anziehungskraft. Als Kriminaler war es Kappes Geschäft, andere Leute zum Sprechen zu bringen und die Leichen zu finden, die sie im Keller hatten. Das gab ihm Macht über Leben, über jene, die bei Verhören auf dem Armsünderstühlchen vor ihm saßen. Sie waren ihm ausgeliefert, darauf angewiesen, dass er ihnen glaubte.
Kappe hatte wahrscheinlich längst Familie, Kinder, vielleicht sogar Enkel, die es zu schützen galt. Das war der Anfang. Man begann sich anzupassen, mit jedem Tag etwas mehr, ohne es recht zu merken. Schließlich steckte man zu tief drin, und so überschritt man leicht die Grenze dessen, was noch anständig war. Das ging schleichend. Und am Ende war es nur noch ein ganz kleiner Schritt hinüber auf die andere Seite, eine Sekunde, in der man sich falsch entschied. Er als Ausbilder wusste das. Wie oft musste er sich auf die Lippen beißen, um nichts zu sagen, was der offiziellen Linie widersprochen hätte! Womöglich wäre er noch von einem seiner Schüler dafür denunziert worden.
Kappe ging es vielleicht ähnlich. Die Nazis überwachten Leute wie ihn. Leute, deren Aufgabe es war, die Gesetzlosen zu überführen, mussten sich selbst peinlich genau an die offizielle Linie halten - an die geschriebene und die ungeschriebene. Sonst wurden sie zur Gefahr für das ganze System. Und Spitzel gab es überall - nicht nur bei Borsig.
Wieder zückte Lempel die Uhr. Vielleicht hatte Kappe seine kleine Nachricht nicht bekommen? War der Brief womöglich verlorengegangen? Hatte Trampe ihm die falsche Adresse genannt?
Es klopfte. Lempel schreckte hoch. Das musste Kappe sein. Und jetzt, wo der endlich kam, war er nicht darauf vorbereitet, hatte seine Gedanken nicht beisammen, seine Sätze nicht parat.
«Herein!»
Die Tür öffnete sich quälend langsam, ein Kopf schaute durch den Spalt. Einer mit grauen Haaren, nicht mehr vielen, ein Gesicht mit Falten, bleich, dunkle Ringe unter den Augen, das Gesicht eines übermüdeten Mannes. Doch jetzt lächelte der Mund, und der Ankömmling mit den vergissmeinnichtblauen Augen zwinkerte ihm zu. Lempel fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Da war es wieder, dieses spitzbübische Blinzeln. Lempel fiel ein Stein vom Herzen. Das war sein ehemaliger Schulkollege Hermann Kappe, wie er leibte und lebte. Und doch, er musste vorsichtig sein. Diese Geschichte konnte sie alle in Gefahr bringen - in Lebensgefahr womöglich.
Er sprang auf, um ihm entgegenzugehen. Der Körper des Ankömmlings schob sich vollends durch den Türspalt.
«Kappe, schön dich zu sehen», begrüßte Lempel ihn herzlich.
«Hast an Kontur gewonnen, was?»
Kappe schmunzelte. «Alles wird von Tag zu Tag schwerer - ich ebenfalls. Ich finde es auch schön, dich zu sehen. Wie hast du mich eigentlich gefunden?»
«Über Trampe.»
Kappes Augen wurden groß. «Theodor Trampe, der alte Gauner? Ja, jetzt erinnere ich mich. Er hat mir mal erzählt, dass er hin und wieder bei Borsig zu tun hat. So, und da seid ihr euch also begegnet?»
Lempel grinste. «Eines Tages in der Werkskantine kamen wir ins Gespräch, als ich mich an seinen Tisch gesetzt hatte. Er fragte mich, woher ich komme. Und als ich Wendisch Rietz sagte, meinte er, dass er einen Freund habe, der ebenfalls von dort stammte. Ja, und dann waren wir schnell beim Du.»
Kappe lachte. «Der Freund war dann wohl ich. Wie ist die Welt doch klein! Aber nun sprich dich mal aus, was gibt es denn so Dringendes?»
Lempel runzelte die Stirn. «Nun, wenn ich es nicht dringend mache, dann bekomme ich einen so beschäftigten Mann ja nie zu sehen …»
«Stimmt, es ist schon eine Schande, da leben wir in derselben Stadt …» Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. «Es tut gut, jemanden von früher wiederzutreffen. Na, dann lass dich mal umarmen, altes Haus.»
Lempel zog den ehemaligen Schulkollegen zu sich heran und klopfte ihm auf den Rücken. «Fast