Beutezug. Petra GabrielЧитать онлайн книгу.
eine gewisse Genugtuung fest. Ja, die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Und Kappe schien sich sogar richtig zu freuen, ihn wiederzutreffen.
«Was hast du gesagt?», kam es da dumpf aus Lempels Halsbeuge. «Und könntest du mich bitte mal loslassen? Ich kriege kaum noch Luft. Warst du früher auch schon so lang?»
«Nee, früher war ich immer kleiner als Liepe und du.» Schuldbewusst lockerte Lempel den Griff.
Kappe löste sich von ihm, sein Kopf war hochrot. «Du bist ganz schön gewachsen. Puh, nimmst du deine Auszubildenden auch so in den Schwitzkasten? Kein Wunder, dass ihr diese Auszeichnung bekommen habt!»
Lempel wusste, was Kappe meinte. Damals hatte er es noch als Ehre empfunden. Heute wusste er es besser. 1936 war das Borsigwerk in Tegel durch eine Verfügung Hitlers zu einem «Nationalsozialistischen Musterbetrieb» ernannt worden und hatte das Leistungsabzeichen der DAF als «anerkannte Berufserziehungsstätte» erhalten. Er war zum Leiter der Ausbildung befördert worden. Seit einiger Zeit half er auch als Lehrer an der Gewerblichen Berufsschule Kreuzberg I für Elektriker und Mechaniker in der Wassertorstraße 31 aus. Traugott Lempel, der stramme Parteingenosse. Doch es gab auch noch den anderen Lempel, den, der jene Arbeiter mit versteckter Sympathie betrachtete, die sich um Fritz Lüben und seine Widerständler geschart hatten. Lempel schluckte.
«Schniekes Büro hast du», erklärte Kappe in die Stille hinein. Doch Lempel sah den aufmerksamen Blick genau, mit dem er ihn musterte. Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. «Aber nimm doch Platz! Danke, dass du kommen konntest.»
Kappe schaute zu, wie Lempel sich auf die andere Seite des Schreibtisches bewegte und schließlich setzte. Erst dann folgte er der Einladung. «Normalerweise bin ich es ja andersrum gewöhnt.» Er schmunzelte.
Lempel konnte nicht anders, er grinste zurück. «Ich habe gehört, du bist ein erfolgreicher Kriminaler. Du hast den Raubmord an diesem Fabrikanten in der Lausitzer Straße gewissermaßen in einer Nacht aufgeklärt. Ist der Täter nicht unter verschiedenen Namen aufgetreten? Das hat Trampe jedenfalls gesagt. Er ist mächtig beeindruckt von dir.»
Kappe kniff die Augen zusammen. «Trampe redet zu viel. Ihr scheint euch wohl ganz gut zu verstehen, was? Aber ehe du fragst: Nein, ich leite nichts. Ich habe nicht so eine steile Karriere gemacht wie du. War wohl für mich nicht so …»
Lempel verstand sehr gut, warum Kappe stockte. Der hatte also ebenfalls seine Bedenken. Lehrer, nicht nur die an beruflichen Schulen, hatten sich heutzutage der offiziellen Meinung anzupassen. Sonst waren sie schnell keine Ausbilder mehr, sondern fanden sich als Soldat an der Front wieder, wo sie anderes zu tun hatten, als junge Leute zu verderben, wie es so schön hieß. Falls sie nicht wegen Volksverhetzung in eines der Umerziehungslager wanderten. Schließlich waren die Jugendlichen die Zukunft des Tausendjährigen Reiches, und deshalb konnte das Reich keine Abweichler dulden. Denn tausend Jahre waren eine lange Zeit.
Lempel beschloss spontan, die Vorsicht fallenzulassen - jedoch nur teilweise. Er durfte das Mädchen keinesfalls gefährden. Sie hatte ja niemanden sonst, zu dem sie mit ihren Sorgen gehen konnte.
«Also, was is’ nun? Willste mich ewig anstarren, als wäre ich ein falscher Fuffziger?» Das Misstrauen in Kappes Augen strafte den scherzhaften Ton Lügen.
«Du bist doch ein erfahrener Ermittler.» Kappe schaute ihn nur an.
Lempel wand sich. Nun gut. Am besten rückte er einfach mit der Sprache heraus. «Hans, einer meiner … äh … Schüler, ist verschwunden. Seine Mutter sagt, sie seien zusammen in den Lustgarten gegangen, um am 8. Mai die Eröffnung der neuen Ausstellung zu sehen. Du weißt schon, die mit dem schönen Namen Sowjetparadiese. Da hat es doch einen großen Aufmarsch auf dem Schlossplatz gegeben mit allem Tschingderassassa, um auch ja Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich wollen sie zeigen, was es mit der bolschewistischen Terrorherrschaft auf sich hat. Ein Freund von Hans war auch dabei. In dem Gedränge hat die Mutter ihren Sohn dann aus den Augen verloren. Zunächst hat sie sich nichts dabei gedacht, geglaubt, der komme schon heim. Schließlich ist er fünfzehn und kein Kleinkind mehr. Doch seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Ich mache mir große Sorgen, denn das passt nicht zu ihm. Hans ist kein Schwänzer. Ich kenne ihn als einen sehr pünktlichen Jungen. Doch bei der Vermisstenstelle scheint es niemanden zu kümmern. Könntest du mal …»
«Verschwunden? Und was sagt der Freund? Hat die Mutter ihren Sohn überhaupt als vermisst gemeldet?»
«Ich weiß nicht, was der Freund sagt, ich habe ihn nicht gesprochen, denn er ist nicht in meinem Betrieb. Ich kenne auch seinen Namen nicht. Und ja, die Mutter hat ihren Sohn als vermisst gemeldet. Ich habe mich auf ihre Bitte hin außerdem bei den Berliner Krankenhäusern erkundigt. Nichts bisher. Kappe, ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob deine Kollegen überhaupt nach ihm suchen. Könntest du mal nachfragen?»
Kappe kniff die Augen zusammen, dann nickte er bedächtig.
«Ich denke schon … Doch, könnte ich. Wie heißt der Junge denn?»
«Hans von Benn.»
«Ach, so ein adeliges Jüngelchen.» Es war Kappe anzuhören, was er vom deutschen Adel hielt.
Wieder zögerte Lempel. «Also, wie man’s nimmt. Sein Vater trägt den guten deutschen Namen Willy Schmidt.»
«Waren die Eltern nicht verheiratet?» Kappe klang missbilligend.
«Doch, doch», versicherte Lempel eilig, «der Name von Benn kommt von der Mutter. Erika von Benn stammt aus verarmtem niederschlesischem Rinnsteinadel. Sie war Beschließerin, vornehm gesagt, Hausdame und Gesellschafterin auf irgendeinem Gutshof. Und da hat sie den Vater kennengelernt, einen Tischler, der für Ausbesserungsarbeiten engagiert war. Ebendiesen Willy Schmidt. Die verliebte Erika hat ihn gegen den Willen ihres Vaters geheiratet, und die junge Familie ist dann nach Berlin gezogen. Das muss in den späten dreißiger Jahren gewesen sein. Schmidt hat Arbeit als Hausmeister bei der Reichsbank bekommen. Du weißt schon, im neuen Gebäude am Werderschen Markt. Das hat mir Hans jedenfalls erzählt. Kurz darauf hat sein Vater begonnen, sich gewerkschaftlich einzusetzen.»
Kappe war verwirrt. «Gewerkschaft? Die alten Gewerkschaften sind doch schon 1933 zerschlagen worden. Du meinst wohl die Deutsche Arbeiterfront?»
Lempel schüttelte nur den Kopf. Wieder blieben Worte ungesagt.
Kappe begriff auch so. «Ah, da muss ich dich wohl missverstanden haben. Und wo ist der Vater jetzt?»
Lempel wand sich. «Sie haben ihn vor gut zwei Jahren einkassiert.»
«Was heißt das nun wieder?»
«Bolschewistische Umtriebe, staatszersetzende Aktivitäten, Volksverhetzung … Ich kenne mich da nicht so aus. Hans hat mir erzählt, sein Vater sei für einige Zeit in ein Umerziehungslager gewandert, er wusste nicht genau, wohin. Ich vermute, Oranienburg. Die letzte Nachricht war, dass der Vater als Soldat an die Ostfront geschickt worden ist.» Lempel sah, wie sich Kappes Gesicht schlagartig verdüsterte. War er doch so ein Hundertprozentiger? Dann begriff er. «Hast du einen Sohn im Krieg?», erkundigte er sich leise.
Kappe nickte. Für eine Weile schwiegen die beiden Männer. Was gab es für einen Vater dazu auch zu sagen außer Sätze wie «Hätten sie doch lieber mich geholt»? Doch man war mit über fünfzig schon zu alt fürs Sterben. Noch.
«Wieso heißt dieser Hans jetzt von Benn und nicht Schmidt?», fragte Kappe schließlich.
«Die Mutter hat sich scheiden lassen. Warte mal, das muss kurz nach der Verhaftung gewesen sein. Also, der Vater … der ist nicht nur Sozialist, er ist auch …»
«Jude?», beendete Kappe den Satz und kniff die Lippen zusammen. «Dann wundert es mich aber, dass die Wehrmacht ihn genommen hat. Zwar verheizen sie die Politischen gerne an der Front, aber die Juden … die schicken sie wohl eher anderswohin.»
Lempel spürte, wie sich in seinem Bauch ein Klumpen bildete, wie immer, wenn von diesem Thema die Rede war. Kappe sprach von den Deportationen der Berliner Juden, die seit letztem Oktober liefen. «Irgendetwas in der Art muss es jedenfalls sein. Vielleicht hat er auch Zigeunerblut. Aber