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Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.

Die Fischerkinder - Melissa C. Feurer


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Beleuchtung reichte gerade einmal aus, die Konturen der Einrichtung sichtbar zu machen und ihre Gesichter zu erhellen. Mira fragte sich, ob sie genauso verängstigt aussah wie Vera, deren Miene schreckensstarr war. Ihr Haar war staubig, und der Abdruck des Kiesbodens prangte auf ihrer Wange. Das Ausweisbändchen an ihrem Arm hatte auch ordentlich etwas abbekommen: Mitten durch den neunstelligen Code zog sich ein scharfer Knick.

      Edmund Porter war die Ruhe selbst. Er zog die Vorhänge zu, zündete eine Kerze an, verstaute die Taschenlampe in einer Schublade und setzte sich in seinen Ohrensessel. „Es ist gefährlich“, sagte er dann, „um diese Zeit unterwegs zu sein.“

      Vera stieß die Luft aus, als wollte sie ein sarkastisches „Wem sagen Sie das?“ loswerden. Doch außer dem Schnauben kam kein Laut über ihre Lippen. Überhaupt sah sie so aus, als wäre sie nicht fähig, jemals wieder ein Wort zu sagen.

      „Uns zu helfen war ebenfalls sehr gefährlich.“ Mira straffte die Schultern. Edmund Porter hatte ihnen nicht den Hals gerettet, um sie nun ans Messer zu liefern. Und auch seine Ermahnung schien nicht wirklich von Herzen zu kommen. Mira wurde das Gefühl nicht los, dass er sie erwartet hatte. Vielleicht nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht … aber doch erwartet.

      Sie nestelte am Bund ihrer Bluse herum und zog schließlich das ledergebundene Buch hervor. „Es tut mir leid“, sagte sie aufrichtig. „Ich habe das hier gestern mitgenommen.“

      „Ich weiß.“ Edmund Porter war nun dazu übergegangen, seine Pfeife zu stopfen. „Ich wusste, dass du dir kein Buch entgehen lassen würdest, das du noch nicht kennst. Schon gar keines voller Abenteuer und Weisheit.“ In seinen Augen glitzerte die Heiterkeit. Mira konnte es nicht fassen, wie gelassen er es hinnahm, dass sie mitten in der Nacht in seinem Laden stand und zugab, eines seiner Bücher gestohlen zu haben. Noch dazu ein so gefährliches.

      „Es ist verboten“, würgte Vera schließlich heraus. „Dieses Buch müsste gemeldet werden!“ In ihrer Stimme vibrierte die Angst.

      Edmund Porter nahm den ersten Zug von seiner Pfeife. „Zwei Mädchen, die des Nachts durch die Straßen wandern, müssten auch gemeldet werden.“

      Vera sog die Luft ein und sah sich panisch um, als suche sie einen Fluchtweg.

      „Ich habe kein Interesse daran, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Aber dass ihr hier seid – noch dazu um diese Zeit –, zeigt mir, dass ihr das Risiko nicht scheut.“ Er stieß den Rauch aus. Nach wie vor machte er keine Anstalten, Mira das Buch abzunehmen. „Das ist gut. Dieses Buch bringt viele Probleme mit sich.“

      Das erinnerte Mira an den eigentlichen Grund ihres Kommens. Sie holte tief Luft und fragte geradeheraus: „Wo ist der Rest der Geschichte?“

      Vera neben ihr keuchte erschrocken. Wie zwei grüne Laternen flackerten ihre angsterfüllten Augen im Kerzenlicht.

      „Ich konnte es nicht zu Ende lesen, weil die Seiten herausgerissen wurden. Das Ende fehlt.“

      Edmund Porter nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Pfeife. „Ah. Ja.“ Er lächelte. „Matthäus. Du hast längst nicht alles herausgefunden.“

      Es ärgerte Mira, dass er sie vergnügt anlächelte, so als wäre ihr etwas ungemein Wichtiges entgangen. Vera stand immer noch wie versteinert da und war auch keine besonders große Hilfe. „Das Ende“, fuhr Edmund Porter jetzt fort, „fehlt nur bei Matthäus.“

      „Die anderen Geschichten interessieren mich nicht“, entgegnete Mira ärgerlich. Die Anspannung in ihr stieg ins Unermessliche. Sie war so kurz davor, das Geheimnis zu lüften und den Rest der Geschichte zu erfahren. „Ich will wissen, was mit seinen Freunden passiert. Können Sie es mir erzählen? Bitte“, fügte sie hastig hinzu, weil sie feststellte, dass ihre Frage mehr wie ein Befehl geklungen hatte.

      „Natürlich kann ich. Aber ich bin fast ein wenig enttäuscht, dass du nach Matthäus aufgegeben hast. Markus und Lukas hätten dir alles verraten. Und Johannes.“

      „Sie meinen, die gleiche Geschichte ist mehr als einmal in diesem Buch?“, fragte Mira.

      „Viermal, um genau zu sein.“

      Ein Kribbeln machte sich in Miras Bauch bemerkbar. Nun war auch bei Vera die Neugier der Angst über den Kopf gewachsen. „Aber wie können vier Schriftsteller die gleiche Geschichte aufschreiben?“, fragte sie.

      „Ja, das scheint ungewöhnlich“, erwiderte Edmund Porter immer noch völlig entspannt. Wie er da in seinem Sessel lehnte, hätte man leicht meinen können, es wäre nicht mitten in der Nacht und sie sprächen nicht bei einem äußerst verbotenen Treffen über eine äußerst verbotene Geschichte.

      Mira atmete tief ein. Die Luft roch nach süßem Tabak und der Kälte der Nacht. „Das alles ist wirklich passiert, nicht wahr?“ Irgendwie hatte sie es die ganze Zeit geahnt. Schon als sie tränenüberströmt die letzte grausige Szene gelesen hatte.

      Edmund Porter löschte sorgfältig seine Pfeife, legte sie weg und stand auf. Jede Heiterkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Stirn lag in sorgenvollen Falten. „Wäre diese Geschichte ein Märchen“, sagte er, als er dicht vor ihnen stand, „hätte man sie nie verboten. Der Staat könnte nicht tun, was er tut, wenn die Leute um die Wahrheiten in diesem Buch wüssten.“

      Vera gab ein Wimmern von sich, und auch in Mira regte sich bei diesen Worten Unbehagen. Beide waren sie dazu erzogen worden, den Staat und das, was er tat, nicht zu hinterfragen oder gar zu kritisieren. Man hatte es ihnen in den Erziehungshäusern, zu Hause und im Unterricht regelrecht eingeimpft.

      Edmund Porter sah nicht aus wie ein Rebell. Natürlich, er besaß einen ganzen Laden voller Bücher, und das machte ihn nicht gerade zu einem vorbildlichen Staatsbürger. Aber ansonsten erschien er Mira recht friedlich. Er war doch nur ein ergrauter Mann mit rundem Bauch und Brille. Mira wollte hören, was er zu sagen hatte. Sie wollte das Ende der Geschichte erfahren. Deshalb schluckte sie ihre Beklommenheit hinunter.

      „Du hast gelesen, wie Jesus starb?“

      Mira nickte angespannt.

      „Dann will ich dir erzählen, wie er auferstand“, sagte Edmund Porter.

      „Aufer- was?“, fragte Vera.

      Mira griff nach der zur Faust verkrampften Hand ihrer Freundin und drückte sie fest. Veras Panik durfte Edmund Porter nicht davon abhalten, die Geschichte zu Ende zu erzählen. „Das ist, wenn jemand Gestorbenes wieder ins Leben zurückkommt“, flüsterte sie hastig.

      Vera starrte Mira an und stieß dann ein nervöses Lachen aus. „Das glaubst du aber nicht wirklich, oder?“

      Sie sahen beide zu Edmund Porter, über dessen Gesicht ein Lächeln huschte. Ihr Entsetzen schien ihn zu amüsieren. „Es war am dritten Tag nach der Kreuzigung“, ergriff er wieder das Wort „als zwei Frauen zu seinem Grab kamen. Es war leer.“

      „Vielleicht hat ihn einfach jemand gestohlen“, sagte Vera schnell. Sie hatte ihre Bewegungslosigkeit überwunden und zerrte an Miras Arm. „Komm schon, jetzt lass uns endlich gehen. Diese ganze Sache ist zu gefährlich! Nur wegen einer blöden Geschichte …“

      „Gestohlen“, wiederholte Edmund Porter nachdenklich. „Ja, das haben einige böse Zungen damals auch behauptet. Aber die beiden Frauen berichteten des Weiteren, sie wären ihm begegnet. Und was deine ursprüngliche Frage angeht, Mira: Jesus traf auch noch einmal seine Freunde und sprach mit ihnen. Dann ging er zu Gott zurück.“

      „Gott?“, echote Vera. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schien einem hysterischen Anfall nahe.

      „Das ist sein Vater“, erklärte Mira. „Und er ist wohl so was wie ein … König?“ Sie sah mit gehobenen Brauen zu Edmund Porter.

      Er lächelte. „Es ist doch alles recht viel, um es sofort zu begreifen“, sagte er ruhig. „Ich will nicht, dass auch nur eine eurer Fragen unbeantwortet bleibt. Aber dafür gibt es einen besseren Ort und ganz gewiss einen besseren Zeitpunkt als mitten in der Nacht.“

      Nun


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