Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
wirst alles erfahren“, versicherte Edmund Porter mit seiner ruhigen, fast trägen Stimme. „Kommt am Montag wieder, dann lasse ich euch Zeit und Treffpunkt wissen. Ich denke, ich brauche euch nicht zu sagen, dass alles, was wir innerhalb dieser vier Wände besprochen haben, unter uns bleiben muss. Das habt ihr verstanden, nicht wahr?“
Mira bejahte und sah zu Vera, die zögerlich nickte.
„Und jetzt geht. Nehmt den Weg durch die Kirschgasse – dort gibt es keinen Wachposten.“ Sie fragten nicht, woher er das wusste. Wenn sie eines begriffen hatten, dann dass der freundliche Buchladenbesitzer nicht der gesetzestreue und harmlose Mann war, der er zu sein vorgab.
Am Montag im Unterricht saß Mira wie auf Kohlen. Eigentlich hätte sie von den vergangenen Nächten übermüdet sein müssen, doch sie war hellwach und aufgedreht wie eine Spieluhr. Allerdings fiel es ihr schwer, diese Wachheit in Konzentration auf Staatswirtschaft umzuwandeln.
Professor Winkelbauer ließ sie Essays über die Fortschritte der Landwirtschaft schreiben. Während sie über ihren Heften brüteten, ging er mit kritischer Miene durch die Reihen und brachte die Schüler aus dem Konzept, indem er über ihre Schulter starrte und mitlas.
Staatswirtschaft war nicht gerade Miras Lieblingsfach, aber sie schlug sich doch ganz gut. Nur heute kam sie nicht recht voran, und während Professor Winkelbauer ihr zusah, konnte sie ihre Hand kaum dazu bewegen, auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen. Minutenlang starrte sie auf ihren halb fertigen Satz: „Obwohl die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln derzeit noch nicht zu hundert Prozent gewährleistet ist, machen sich auch in der Landwirtschaft die positiven Auswirkungen von König Auttenbergs Gesetz zur Einstellung des Imports bemerkbar, wo die Erträge dank der Reduktion minderwertiger Fremdware und …“
Vera hatte wohl etwas Ähnliches geschrieben. Allerdings hatte sie nicht ein ganz so glückliches Händchen für klangvolle Formulierungen wie Mira. Bei ihr hinterließ die ganze Geschichte einen etwas anderen Eindruck.
„ … gibt es seit dem Importverbot nach wie vor nicht genug Essen für die Bevölkerung.“ Professor Winkelbauer war einen Platz weitergegangen und las über Veras Schulter hinweg mit gekräuselten Lippen laut vor. „Obwohl alle Lebensmittel rationiert wurden, ist es den Landwirten bisher nicht gelungen, genug anzubauen, um alle Bürger zu versorgen. Was, wenn ich fragen darf, soll das heißen, Frau Petersen?“
Vera starrte auf ihr Heft und drückte den Kugelschreiber in ihrer Hand so fest, dass Mira befürchtete, er könnte jeden Moment zerspringen und seine Feder quer durch den Klassenraum schießen.
„Frau Petersen“, wiederholte Professor Winkelbauer. „Was wollen Sie damit sagen? Etwa, dass unser Staat nicht imstande ist, seine Bürger zu versorgen?“
„Nein, Professor“, murmelte Vera, aber der Lehrer hörte ihr gar nicht zu.
„Oder dass unsere Landwirte nicht hart genug arbeiten?“, fuhr er fort. „Ist es das, was Sie mit Ihrer kleinen Hetzschrift zum Ausdruck bringen wollen?“
„Nein, Professor Winkelbauer“, quiekte Vera ängstlich. Sie war in sich zusammengesunken und schon halb hinter der Tischplatte verschwunden. Mittlerweile hörte die ganze Klasse zu; manche betroffen, andere erleichtert, dass es nicht sie getroffen hatte, und wieder andere hämisch grinsend. Daphné Baron hatte ihren Stift weggelegt und sich zurückgelehnt, um ja nichts zu verpassen – eine Dreistigkeit, die abgesehen von ihr keiner gewagt hätte. Herr Baron war ein Arbeitskollege von Miras Vater im Gericht.
„Haben Sie schon einmal die Bedingungen gesehen, unter denen unsere Landwirte arbeiten?“ Professor Winkelbauer war noch längst nicht fertig. Sein krauser Schnurrbart vibrierte bei jedem Wort. „Waren Sie jemals dort draußen auf den Feldern und haben die Knochenarbeit gesehen, die unsere Arbeiter Tag für Tag verrichten, um diesem Volk ein Leben in Unabhängigkeit zu ermöglichen? Nun antworten Sie schon!“
„N … nein, Professor“, Vera schien nun den Tränen nahe. So aufgelöst war sie nicht einmal Samstagnacht gewesen, als sie beinahe nach Ausgangssperre mit einer verbotenen Schrift draußen auf der Straße erwischt worden wären. Alle hatten Respekt vor Professor Winkelbauer, doch Vera schien ihn regelrecht zu fürchten.
Kein Wunder; bei ihr schlug er einen ganz anderen Umgangston an als bei seinen übrigen Schülern. Rotgesichtig schritt er hinter Vera auf und ab, während er einen Vortrag über die harte Arbeit der Landwirte und ihre beeindruckenden Errungenschaften hielt. Vera wagte nicht, sich zu ihm umzudrehen, aber wahrscheinlich musste sie weder seine Gesichtsfarbe noch seine Miene sehen, um zu wissen, dass er kurz vor einer Explosion stand.
„Ich denke“, schloss der Professor schließlich und klang jetzt regelrecht gehässig, „dass es Ihnen nicht schaden könnte, ein zusätzliches Referat zu diesem Thema vorzubereiten. Ich erwarte es in einer Woche schriftlich auf meinem Schreibtisch und lasse Sie wissen, wann Sie Ihre gesamte Klasse mit Ihren Gedanken über die derzeitige Landwirtschaft beglücken können.“
Ein paar verhaltene Lacher lenkten ihn von Vera ab. „Wer hat Ihnen allen eigentlich erlaubt, mit dem Schreiben aufzuhören?“, blaffte er und beobachtete, wie sich die Schüler – abgesehen von Daphné Baron – wieder über ihre Arbeiten beugten. Aber Mira war sich fast sicher, dass er nicht erst jetzt bemerkt hatte, dass alle Anwesenden zuhörten, wie er wieder einmal Vera Petersen schikanierte.
„Ich komme nicht mit“, eröffnete Vera, als sie am frühen Nachmittag die Schule verließen. Es war Mitte März, und ein kühler Wind fegte durch die Straßen.
„Was?“ Mira musste sich beeilen, um mit Veras Tempo Schritt zu halten. Sie machte nicht gerade den Eindruck, als wolle sie hierbleiben. Hier, in der Schule, am Ort zahlreicher Demütigungen und Anfeindungen. „Der Unterricht ist vorbei“, setzte Mira an, aber Vera – fast einen Meter vor ihr – schnaubte.
„Bitte, Mira, stell dich jetzt nicht dumm. Ich sagte, ich komme nicht mit“, erklärte sie mit mehr Nachdruck, als Mira jemals in Veras dünner Stimme gehört hatte. „Nicht mit du-weißt-schon-wohin.“
„Was … doch!“ Mira verfiel in einen leichten Trab, um zu Vera aufzuschließen. „Doch, Vera, natürlich kommst du mit zu ‚Porters Höhle‘. Du musst einfach!“
„Ich muss genug andere Dinge“, entgegnete Vera. „Zum Beispiel dieses irrsinnige Referat vorbereiten. Als hätten wir mit den Hausaufgaben und dem Lernen nicht schon mehr als genug zu tun! Und vor der ganzen Klasse diesen Seiltanz vollführen, mich an die Fakten zu halten und es Winkelbauer recht zu machen. Und das alles, während Daphné Baron mich feixend beobachtet und zu Hause jedes falsche Wort, das ich gesagt habe, ihrem Vater erzählt, der es dann an Filip auslässt und es ihm im Staatsdienst noch schwerer macht. Das muss ich, und das reicht mir völlig. Ich kann nicht noch mehr Schwierigkeiten gebrauchen, Mira!“
Ihre Stimme überschlug sich, während das alles aus ihr heraussprudelte. Ein paar Mitschüler, die vor ihnen liefen, drehten sich nach ihnen um, aber Mira verzichtete darauf, Vera zu ermahnen, ihr Geheimnis nicht so herumzuposaunen. Sie wussten beide ganz genau, wie gefährlich diese Geschichte war. Wenn Mira sie dabeihaben wollte, durfte sie Vera nicht auch noch daran erinnern.
„Unsere Familien arbeiten im Staatsdienst.“, fuhr Vera leiser fort. „Und wir können froh darüber sein. Den Leuten draußen in den Armenvierteln geht es nicht so gut wie uns.“ Sie machte eine ungenaue Geste in Richtung Stadtmauer, welche die Innenstadt von den äußeren Bezirken trennte. „Willst du das alles wirklich für ein Buch aufs Spiel setzen?“
„Nein, aber … Vera, ich muss wissen, warum sie diese Geschichte verboten haben. Ich sehe nichts Gefährliches an einem Mann, der Kranke gesund gemacht und Menschen geholfen hat.“
„Dann vielleicht an einem Mann, der angeblich zuerst tot und dann wieder lebendig war?“, flüsterte Vera heiser. „Mira, bitte! Es ist nicht unsere Aufgabe, zu entscheiden, was gut für uns ist und was nicht. Das Komitee für verbotene Schriften wird schon wissen, warum sie dieses Buch nicht erlauben.“
Bis vor wenigen Tagen hätte Mira ihr zugestimmt.