Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
auch fündig geworden?“
„Ähm …“ Mira sah auf das Elefantenbuch hinunter. Sie hatte noch keinen vollständigen Satz gelesen. Vorsichtig hielt sie über die Schulter nach dem Uniformträger Ausschau. Er stand nahe genug, um jedes Wort zu hören, das sie mit Edmund wechselte.
Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, riss Edmund Porter ihr das Buch aus den Händen. „Ich trage es für dich ein“, erklärte er freundlich.
Ein leichter Anflug von Ärger breitete sich in Mira aus. Sie hatte den ganzen Tag darauf gewartet, hierherzukommen. Und jetzt komplementierte Edmund Porter sie einfach so wieder hinaus. Dabei hätte er sich denken können, dass ein Wachmann hier sein würde. Sie hatten ein sehr aufmerksames Auge auf die Buchhandlung und die Menschen, die hierherkamen. Er hätte wissen müssen, dass er Mira hier keine Informationen würde geben können.
Frustriert wartete sie auf seine Rückkehr und nahm ohne große Begeisterung das Buch mit dem Elefanten entgegen. Sie vergaß sogar ganz, Edmund dafür die Brotrationskarte zu überreichen, die sie mitgebracht hatte. Brotrationen gab ihr Vater nur selten und sehr ungern her. Meist bezahlte Mira Edmund mit den Sonderrationen, die Gerald Robins ihr ohne große Nachfragen überließ, und die waren so wertvoll, dass sie danach für eine ganze Weile nichts mehr mitzubringen brauchte.
„Ich möchte wetten“, lächelte Edmund Porter, als hätte er ihre missmutige Miene gar nicht bemerkt, „dass wir uns spätestens übermorgen wiedersehen.“
Mira sah von dem Elefanten zu Edmund Porter, der ihr für den Bruchteil einer Sekunde verschwörerisch zublinzelte. Dann wandte er sich dem Wachmann zu, der immer noch die Regale inspizierte: „Und kann ich Ihnen vielleicht auch behilflich sein?“
„Danke“, erwiderte der Mann so steif, wie er sich bewegte. „Ich sehe mich nur um.“ Natürlich tat er das. Allerdings gewiss nicht, um sich ein Buch zu leihen. Er war einzig und allein hierher beordert worden, um einen Laden, in dem mit so fragwürdiger Ware wie Büchern gehandelt wurde, im Auge zu behalten.
„Aber vielleicht kann ich Ihnen etwas empfehlen.“ Edmund Porter nickte Mira zu und ließ sie stehen. „Manchen dieser Bücher sieht man gar nicht an, was in ihnen steckt, ehe man sie nicht geöffnet hat.“
Obwohl er sie bei diesen Worten keines Blickes würdigte, fühlte Mira Aufregung in sich aufsteigen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass der Wachmann beschäftigt war, dann klappte sie den Deckel des schweren Buches in ihren Händen auf. Und tatsächlich: Auf der ersten gelblichen Seite lag ein kleiner, weißer Zettel, auf dem nur eine einzige Zeile notiert war: ein Tag, eine Uhrzeit und ein Ort.
Als sie an diesem Abend mit ihren Eltern zu Abend aß, fiel es Mira schwer, an etwas anderes zu denken als an die handschriftliche Notiz, die sie in ihrem geliehenen Buch gefunden hatte. Das war besonders gefährlich, weil ihre Aufmerksamkeit gefragt war. Ihr Vater fragte sie über den Abendbrottisch hinweg in Staatsgeschichte ab, während ihre Mutter sicherzustellen versuchte, dass Mira genug aß. Im Hintergrund schrubbte Iliona die Anrichte und behielt dabei Teller und Gläser der Familie im Auge, um rechtzeitig Nachschub zu bringen.
„Wem haben wir den Erlass zum Verbot konspirativer Kleinstgruppen zu verdanken?“, fragte Miras Vater zwischen zwei Bissen Schwarzbrot mit dünnen Schinkenscheiben, die ihre Mutter diese Woche von den Fleischrationskarten gekauft hatte.
„Joachim Burkhardt. Burkhardthausen ist nach ihm benannt“, antwortete Mira, konnte ihre Gedanken aber nicht von dem kleinen Zettel losreißen. „Mittwoch, 18 : 00 Uhr, Westturm“, hatte auf dem Papier gestanden, das Edmund Porter in den dicken Wälzer gelegt hatte, der das erste Buch sein würde, das Mira ungelesen zurückbrachte.
Mira hatte gewusst, dass sie unter der ständigen Überwachung und dem Schutz ihrer Eltern aufgewachsen war. Aber die Erwähnung des Westturms hatte ihr verdeutlicht, wie behütet sie wirklich lebte. Sie hatte das sichere Innenstadtviertel noch nie verlassen und war deshalb niemals auch nur in die Nähe des Westturms am Stadtrand gekommen. Er lag zwischen den Randvierteln und den Feldern. Niemals hätten ihre Eltern sie einen Fuß in eine solche Gegend setzen lassen.
Ihre Mutter, die schon eine Weile dabei zugesehen hatte, wie Mira ihr Brot auf dem Teller hin und her schob, runzelte die Stirn. „Iss endlich dein Schinkenbrot, Miriam. Du bist schon ganz schmal.“
„Zu welchem Zweck?“, fragte Miras Vater.
„Weil es ungesund ist, sich nicht ausgewogen und ausreichend zu ernähren!“, rief ihre Mutter, die Mira immer noch musterte, als könne sie jeden Moment aufgrund von Mangelernährung ohnmächtig oder tot vom Stuhl kippen.
„Meine Güte, Rose!“ Gerald Robins schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich noch eine Scheibe Schinken. „Zu welchem Zweck das Verbot erlassen wurde.“
Mira antwortete lieber, als zu essen. Sie hatte beim Gedanken an Mittwochabend einen dicken Kloß im Hals und befürchtete, keinen Bissen hinunterzubekommen.
„Kleinstgruppen sind Minderheiten, deren Einstellungen nicht mit den Grundfesten unseres Staates einhergehen“, antwortete sie, als hätte sie das Staatsgeschichtsbuch verschluckt. „Gibt man solchen Gruppen die Gelegenheit, sich im Privaten zu treffen, ist das Risiko eines Aufstandes groß.“
„Was sind die Merkmale solcher Gruppen?“, fragte Gerald Robins weiter, was bedeutete, dass er mit Miras Antwort zufrieden war. Wenn er nicht nachhakte, war das meist ein Zeichen seiner Zustimmung.
„Kritik an Staat und König, regelmäßige Zusammenkünfte“, zählte Mira auf.
„Das Schinkenbrot“, erinnerte ihre Mutter und lehnte sich zurück, damit Iliona ihr Glas mit mehr trübem Apfelsaft füllen konnte.
„Unsinn, Rose! Was hat denn nun das Schinkenbrot damit zu tun?“
„Internationalitätsgedanken, Rituale, traditionelles Lied- und Schriftgut“, ratterte Mira weiter herunter. „Aufstellen eigener Anführer und Verehren anderer Autoritäten als dem König. Warum ist es eigentlich verboten, in die Außenviertel zu gehen?“, fragte sie dann, ohne Atem zu holen, möglichst beiläufig.
Iliona hielt beim Nachschenken inne, und ihr Vater ließ sein Schinkenbrot sinken. „Hat das etwas mit Staatsgeschichte zu tun?“, fragte er misstrauisch.
„Nein“, gab Mira zu. „Mir ist nur aufgefallen, dass ich noch nie dort draußen war.“
„Über welch unnütze Dinge du dir Gedanken machst, Miriam. Wozu solltest du dich denn dort draußen herumtreiben wollen?“ Er hob sein Schinkenbrot wieder an, als wäre die Sache damit erledigt.
„Es gibt sogar eine Mauer. Und Wachposten, die verhindern, dass jemand sich nach dort draußen verirrt“, beharrte Mira.
„Die Mauer“, sagte ihr Vater und fixierte Mira über den Tisch hinweg mit einem durchdringenden Blick, „ist in erster Linie dazu da, die Außenstädter davon abzuhalten, in die Innenstadt zu kommen, und nicht umgekehrt.“ Sein Blick wanderte zu Iliona, die das Glas hastig bis zum Rand füllte und sich dann wieder hinter die Anrichte zurückzog.
„Iliona kommt aus den Außenvierteln!“, stellte Mira fest, und das Mädchen zuckte beim Klang ihres eigenen Namens ertappt zusammen.
„Iliona arbeitet in der Innenstadt“, entgegnete ihr Vater. „Sie hat einen Passierschein.“
„Und den braucht man nur, wenn man von draußen hineinwill?“ Mira nahm den ersten richtigen Bissen von ihrem Schinkenbrot, um der Frage damit etwas Beiläufiges zu geben.
Ihr Vater seufzte. „Den brauchen nur die Außenstädter. Die Innenstädter haben überhaupt keinen Grund, nach dort draußen zu gehen.“
„Es ist ja auch viel zu gefährlich“, schaltete sich Miras Mutter ein.
„Muss man sein Ausweisband scannen, wenn man hinausgeht?“, fragte Mira, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie viel von der Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie ihre Identifikationsnummer brauchte, um das Stadttor