Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
sich etwas zuschulden kommen ließ. Ihr Code würde eine nur allzu leicht verfolgbare Spur hinterlassen.
„Nein“, sagte ihr Vater jedoch. „Was für eine Verschwendung wertvoller Technik. Die Innenstädter gehen nicht nach dort draußen. Sie haben in den Außenvierteln nichts zu suchen, und kein Wachmann, der noch ganz bei Verstand ist, würde jemanden ohne einen sehr guten Grund passieren lassen.“
Unwillkürlich huschte Miras Blick zu Iliona, die den Lappen so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei wagte sie nicht ein einziges Mal, den Blick zu heben. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass jemand die zornigen Tränen sah, die sich bei Gerald Robins abfälligen Worten in ihren Augen angesammelt hatten.
Mira versuchte mühsam, das Stückchen Brot, auf dem sie seit geraumer Zeit herumkaute, hinunterzuschlucken. Es kratzte in ihrer trocken gewordenen Kehle. Sie hustete und hätte am liebsten gefragt, was mit den Menschen in den Armenvierteln so verkehrt war. Immerhin war auch Miras Familie nicht sonderlich reich. Niemand war das. Sie alle waren auf die Rationen angewiesen, die ihnen vom Staat zugeteilt wurden. Und Miras Familie beschäftigte doch selbst jemanden aus den Außenvierteln.
Aber solche Fragen konnte Mira nicht stellen. Auch dann nicht, als sie den Bissen endlich hinuntergeschluckt hatte und wieder genug Luft bekam. Wenn sie ihrem Vorhaben für Mittwochabend keine Steine in den Weg legen wollte, war es sicher nicht klug, weiterhin so reges Interesse an den Armenvierteln zu äußern.
Am Dienstagmorgen im Unterricht studierte Mira ihr Staatswirtschaftsbuch besonders genau. Im hinteren Teil des Buches waren verschiedene Landkarten und Stadtpläne abgedruckt, darunter auch einer ihrer Heimatstadt Leonardsburg. Mira war weiterhin wild entschlossen, morgen Abend um sechs Uhr zum Westturm zu gehen, was auch immer sie dort erwartete. Was ihr noch fehlte, war ein handfester Plan, wie sie unbemerkt an den Wachposten vorbeikommen sollte, die an den Stadttoren stationiert waren.
„Wir sind auf Seite 93“, raunte Vera ihr zu, die sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie hatte mit keinem Wort nach ihrem gestrigen Besuch in „Porters Höhle“ gefragt, und so hatte Mira Mittwochabend und den Westturm auch mit keinem Wort erwähnt. Je weniger Leute davon wussten, desto besser. Außerdem war es Veras eigene Schuld; sie hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen.
„Ich weiß“, flüsterte Mira zurück und studierte weiter den Stadtplan. Die Innenstadt von Leonardsburg war ein ovaler Kern, der vor allem im Norden und Westen von einem breiten Band aus Randvierteln gesäumt war. Dahinter kamen nur noch Felder und dann brachliegendes Land.
„Ich meine nur“, wisperte Vera hinter vorgehaltener Hand, „weil du auf Seite 148 bist. Aber wir sind auf Seite –“
„Sie halten es nicht für nötig, meinem Unterricht zu folgen – nicht wahr, Frau Petersen?“
Vera sank beim Klang von Professor Winkelbauers Stimme in sich zusammen.
„Sie beherrschen Staatswirtschaft bereits aus dem Effeff. Ist dem nicht so?“, fragte Winkelbauer boshaft. „Weshalb Sie mir gewiss auch sagen können, welche Güter man jahrhundertelang unnütz importiert hat, obwohl man sie problemlos ersetzen oder hier anbauen kann.“ Er wandte sich zur Tafel um und schrieb: „Unnütze Importe.“
Vera schluckte vernehmlich. „Ja“, brachte sie dann heraus und starrte Winkelbauers knochigen Rücken an, den er ihnen beim Schreiben zuwandte. „Ähm … das Erdöl und …“ Sie sah Hilfe suchend zu Mira.
„Baumwolle“, wisperte diese. „Tabak. Kaffee. Kakao und Zucker.“
Vera schüttelte panisch den Kopf und formte ein „Was?“ mit den Lippen.
Winkelbauer wandte sich wieder zu ihnen um, und sein Mund kräuselte sich zu einem gehässigen Lächeln. „Das ist alles?“
Schnell griff Mira in ihre Tasche und zog eine winzige Packung Ersatzschokoladenkekse heraus. „Kakao und Zucker“, flüsterte sie und deutete unter dem Tisch auf die Süßigkeit.
Vera wagte kaum, einen kurzen Blick zu Mira zu werfen. Dann zwang sie sich sichtlich dazu, sich zu entspannen, und sagte mit lauter und bemüht fester Stimme: „Ersatzschokoladenkekse.“
Daphné, die sich umgedreht hatte, um Vera besser im Blick zu haben, prustete los. Professor Winkelbauer fand Veras Antwort jedoch gar nicht lustig. „Zählen die … Ersatzschokoladenkekse“ – er zog das Wort mit herablassender Stimme in die Länge – „Ihrer Meinung nach zu den primären oder den sekundären Rohstoffen?“
Vera wurde tiefrot und machte den Eindruck, als wäre sie nicht sicher, ob Winkelbauer eine Antwort erwartete oder nicht.
„Wir sprechen uns nach der Stunde“, fuhr er jedoch schon fort und wandte sich wieder seiner Tafelanschrift zu, als wäre Vera auch nicht eine einzige weitere Sekunde wertvoller Unterrichtszeit wert. „Frau Baron, seien Sie so freundlich.“
Daphné fuhr sich durch das honigblonde Haar und wandte sich provokativ langsam wieder nach vorne. Offenbar war sie enttäuscht, dass die Vorstellung schon beendet war.
„Günstige, baumwollfreie Stoffe gehören schon lange zur Standardherstellung in der Textilindustrie“, sagte sie langsam und deutlich. „Zuckerrüben zählen neben rund fünf verschiedenen Getreidesorten zum Hauptertrag unserer Landwirtschaft.“
„In der Tat.“ Winkelbauer notierte die Schlagworte und drehte sich wieder zur Klasse. „Auch Tabak kann in unseren Breitengraden angebaut werden und ist ohnehin genau wie Kaffee und Kakao ein völlig unnützer Luxusartikel. Dennoch“, seine Lippen kräuselten sich gehässig, „stellen wir Ersatzkakao auf Haferbasis her, der sich in der Tat auch in Ersatzschokoladenkeksen befindet.“
Ein paar Mitschüler lachten verhalten, und Vera sah aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Trotzdem stand sie bemerkenswert aufrecht, als sie nach der Stunde an Winkelbauers Schreibtisch trat. Mira hatte absichtlich lange mit dem Einpacken ihrer Sachen herumgetrödelt und war, abgesehen von Winkelbauer und Vera, die letzte Person im Raum.
„Sie haben sich heute selbst übertroffen.“ Winkelbauer verstaute seine Unterlagen sorgfältig in der schwarzen Ledertasche, ohne dabei auch nur zu seinem Gegenüber aufzusehen. „Ich würde an Ihre Eltern schreiben, wenn ich nicht wüsste, dass das bei Ihrer Familie vollkommen nutzlos ist.“
Mira war fertig mit dem Einpacken, und ihr gingen die Entschuldigungen aus, warum sie den Raum noch nicht verlassen hatte. Aber bei so viel Boshaftigkeit, der Vera dort vorne ausgesetzt war, wagte sie nicht, einfach zu gehen. Sie klappte ihre Box mit Stiften vorsichtig auf und warf einen kurzen Blick zu Winkelbauer und Vera. Es schepperte gewaltig, als die Dose auf dem Boden aufschlug und die Stifte in alle Richtungen flogen.
Vera fuhr vor Schreck zusammen. Winkelbauer warf Mira einen finsteren Blick zu. „Jetzt aber schnell, Frau Robins“, mahnte er, hatte für seine Einserschülerin aber keinen bissigen Kommentar übrig.
Stattdessen wandte er sich wieder an Vera: „Ich will Ihnen eine Chance geben, Ihre erbärmlichen Leistungen in Staatswirtschaft zu verbessern. Nicht, dass Sie es verdient hätten.“ Er schnaubte. „Ein befreundeter Landwirt erwartet Sie morgen um vier Uhr, damit Sie ihn für Ihr Referat befragen können. Und ich bitte Sie inständig, Frau Petersen, blamieren Sie mich nicht mit dummen Fragen.“ Seine Stimme triefte nur so vor Zynismus, aber Vera nickte tapfer. „Vier Uhr, pünktlich. Er trifft Sie direkt an seinen Feldern am westlichen Stadtrand.“
Mira, die unter den Tischen über den Boden robbte und ihre Stifte einsammelte, zuckte zusammen. Der westliche Stadtrand. Die Felder hinter den Armenvierteln. Irgendwo dort draußen musste auch der Turm sein.
„Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie wegkommen“, beendete Winkelbauer das Gespräch. „Und Sie auch, Frau Robins. Wie lange kann man brauchen, um eine Handvoll Stifte aufzuheben?“
„Lange genug“, dachte Mira mit klopfendem Herzen, „um den Schlüssel zum Westturm auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.“