Die Reise nach Hause. Lee CarrollЧитать онлайн книгу.
Ich bin heute nur hier, um dir einen kleinen Hinweis zu geben.« Die Stimme zögerte. »Schau nach vorne, du bist schon am Eingangstor!«
Michael stand vor einer großen Hecke, die zwischen den Häuserreihen in eine Schlucht führte.
»Ich kann nichts sehen.«
»Schau noch einmal hin, Michael Thomas.«
Michael starrte auf die Büsche und erkannte langsam die Umrisse eines Tores. Es war versteckt geblieben, weil es sich in die Form der Pflanzen einfügte. Jetzt schien es ihm unmöglich, das Tor NICHT zu sehen, selbst wenn er es gewollt hätte. Es war unverkennbar! Er drehte sich einen Moment zur Seite und schaute dann noch einmal – mit neuem Blick. Da war es, sogar noch deutlicher als eben.
»Was ist los?«, fragte Mike, dem auffiel, dass seine Wahrnehmung sich veränderte.
»Wenn das Unsichtbare sichtbar wird«, sagte die sanfte Stimme, »dann kannst du nicht in die Unwissenheit zurückfallen. Du wirst von nun an jedes Eingangstor sofort erkennen – weil du die Absicht bekundet hast, dieses hier zu sehen.«
Obgleich Mike nicht ganz verstand, was das zu bedeuten hatte, war er begierig, den eigentlichen Weg seiner Reise zu betreten. Die Hecke sah inzwischen nicht nur aus wie ein Tor, sondern verwandelte sich tatsächlich in eines! Direkt vor Mikes Augen begann sie zu wachsen und eine neue Form anzunehmen.
»Das ist ja ein Wunder!«, flüsterte Mike und schaute zu, wie die hohe Hecke zur Eingangspforte wurde; ja, er wich sogar ein wenig zurück, um dem Phänomen Platz zu machen.
»Eigentlich nicht«, antwortete die Stimme. »Deine spirituelle Absicht hat DICH ein wenig verändert; dadurch werden die Dinge, die auf deiner neuen Stufe schwingen, plötzlich für dich sichtbar. Kein Wunder, sondern einfach die Art und Weise, wie es funktioniert.«
»Du meinst, mein Bewusstsein kann die Realität verändern?« , fragte Mike.
»Wenn du es so ausdrücken willst«, erwiderte die Stimme. »Realität ist die Essenz Gottes und ist immer gleich. Dein menschliches Bewusstsein offenbart dir nur die neuen Aspekte der Realität, die du kennen lernen möchtest. Während du dich veränderst, siehst du immer mehr davon, und du kannst diese neuen Offenbarungen erleben und nutzen, wie du willst; nur zurück kannst du nicht.«
Mike begann zu verstehen; doch hatte er noch eine Frage, bevor er sich durch das sichtbar gewordene Tor auf den Weg machte. Immer schon war es ihm ein Bedürfnis gewesen, alles auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu prüfen – auch die Engel-Stimme, die er im Inneren hörte. Er überlegte sich seine Frage und stellte sie:
»Du hast gesagt, ich sei ein Geschöpf mit freiem Willen. Warum kann ich dann nicht zurück, wenn ich es will? Was ist, wenn ich die neue Realität ignorieren möchte, um zu einer einfacheren zurückzukehren? Ist das nicht freier Wille?«
»Das Axiom, dass du niemals in einen weniger bewussten Zustand zurückkehren kannst, ergibt sich aus den Gesetzmäßigkeiten der Spiritualität*«, entgegnete die Stimme. »Wenn du es trotzdem aktiv versuchst, leugnest du die Erleuchtung, die du empfangen hast und verlierst dein Gleichgewicht. Du kannst in der Tat versuchen, dich zurückzubewegen. Es ist dein freier Wille. Doch Menschen, die versuchen, das, was sie als Wahrheit erkennen, zu ignorieren, sind in einem sehr traurigen Zustand, denn sie können mit einer doppelten Schwingungsfrequenz nicht lange existieren.«
Mike verstand zwar nicht die Bedeutung der neuen spirituellen Information, die die Stimme ihm gab. Doch er hatte eine Antwort auf seine Frage bekommen. Er wusste, er konnte hier und jetzt umkehren und zur Stadt zurückgehen. Er hatte die Wahl. Doch jedesmal, wenn er hier stünde, würde er das Tor sehen; und es zu sehen und zu ignorieren, würde ihn aus dem Gleichgewicht bringen und zweifellos krank machen. Irgendwie machte alles Sinn und sein Wunsch war nicht, zurückzugehen, sondern vorwärts. Also nahm er seine Taschen und seinen Beutel und machte sich durch das Tor auf den Weg, auf dem seine Reise begann. Es war ein einfacher Trampelpfad, so wie in jeder anderen Schlucht. Mike fand es aufregend und – das Tor rasch hinter sich lassend – schritt zügig voran.
Kaum hatte er die Pforte durchschritten, als eine dunkle, schemenhafte grünliche Gestalt ebenfalls hindurchschlüpfte. Das Gestrüpp verwelkte, wo ES entlang ging; und hätte Michael beim Gehen nicht nach vorn geschaut, der Gestank hätte ihm verraten, dass ES anwesend war. ES bezog seine Position weit genug hinter Mike, um außer Sichtweite, aber immer im gleichen Abstand zu ihm und seiner Überschwänglichkeit zu bleiben. Behende und listig, überschattete es gleich einem Phantom Mikes fröhliche Begeisterung mit ebenso viel Hass und dunklen Absichten.
Nach kurzer Zeit änderte sich für Michael Thomas nicht nur die Landschaft, sondern auch das Gefühl, das sie in ihm hervorrief. Nirgendwo konnte er das weitgestreckte Los Angeles mit seinen unzähligen Vorstadt-Häusern entdecken. Tatsächlich gab es keinerlei Anzeichen von Zivilisation – keine Telefonmasten, keine Flugzeuge, keine Autobahnen. Gespannt hatte er sich auf den neuen Weg gemacht, wie ein Kind, das an Weihnachten seine Geschenke auspackt – stetig ausholend und ohne viel nachzudenken, wobei er nun entdeckte, dass er mit jedem Schritt tiefer in eine andere Welt eindrang. Seine Reise führte ihn in eine Realität, die vollkommen verschieden war von derjenigen, in der er sich bis eben noch aufgehalten hatte. Mike fragte sich, ob er sich nun irgendwo zwischen Erde und Himmel befand, wo er spirituellen Unterricht erhalten würde – denn er ging davon aus, dass dieser bald beginnen musste, um ihn auf die Ehre seiner Heimkehr vorzubereiten. Der schmale Pfad war allmählich breiter geworden und besaß nun beinahe die Ausdehnung einer Straße. Er maß vielleicht ein bis anderthalb Meter, und war, obgleich er keinerlei Fußspuren zeigte, leicht auszumachen.
Mike drehte sich plötzlich um. Was war das? Sein Blick fiel auf etwas Dunkelgrünes, Behendes, das nach links hinter einen Felsen schoss. Wahrscheinlich irgendein Wild, dachte er. Die Straße hinter ihm war nun das Spiegelbild dessen, was vor ihm lag – ein langes Band, das sich kurvenreich dahinschlängelte. Inmitten einer herrlich üppigen Landschaft mit grünen Bäumen, Wiesen und felsigen Anhöhen, verschwand sie über viele Hügel hinweg in der Ferne. Blumen betupften die Gegend genau an den richtigen Stellen – wie hunderte von Pinselstrichen auf der vollkommenen Leinwand der Natur.
Mike hielt inne, um zu rasten. Er hatte keine Uhr, doch nach dem Sonnenstand schätzte er, dass es etwa zwei Uhr nachmittags war – Zeit zum Essen. Er setzte sich an den Wegrand und aß die Reste seines riesigen Frühstücks, die er sich für später aufbewahrt hatte. Er schaute umher und fühlte die Stille.
Keine Vögel, dachte er. Er sah sich den Boden unter seinen Füßen genauer an. Auch keinerlei Insekten. Wirklich ein seltsamer Ort. Es machte ihn nachdenklich. Dann fühlte er einen plötzlichen Luftzug im Haar. Wenigstens Luft gibt es hier! Er schaute hinauf zum wolkenlosen Himmel, in das reine Blau eines erfrischenden, herrlichen Tages.
Mike stellte fest, dass es in seinem Beutel nichts mehr zu essen gab; aber er wusste auch, dass er nicht allein war und dass Gott irgendwie für sein leibliches Wohl sorgen würde. Die Geschichten von Moses in der Wüste fielen ihm ein, der 40 Jahre lang mit den Stämmen Israels umherzog. Er erinnerte sich, wie diese Nomaden vom Himmel gespeist worden waren, und während er über die Geschichte nachdachte, fragte er sich, ob sie wohl wahr sei. All die Familien, die Moses folgten, hatten wahrscheinlich eigensinnige Teenager, so wie wir heute auch, dachte er. Er sah sie vor sich, wie sie ihren Eltern gegenüber maulten: »Also jetzt sind wir schon achtmal an diesem Felsen vorbeigekommen seit ich klein war! Warum vertraut ihr diesem Moses? Er führt uns im Kreis herum! Die Wüste kann doch so groß nicht sein! Oder?«
Mike lachte bei dem Gedanken und fragte sich, ob er wohl bald den gleichen Felsen noch einmal sehen würde und dann wüsste, dass auch er im Kreis herumging! Ebenso wenig wie die Israeliten in der Wüste, hatte er eine Vorstellung, wohin er ging – und nicht einmal etwas zu essen! Die Übereinstimmung ließ ihn noch mehr lachen.
Vielleicht als Belohnung für sein Lachen oder ganz einfach weil es an der Zeit war, entdeckte Mike hinter der nächsten Kurve der sich weitenden Straße das erste Haus – und es war blau! Du meine Güte, dachte er. Wenn Frank Lloyd das sehen könnte, er würde brüllen! Mike musste innerlich lachen. Ich hoffe, ich