Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel HerzogЧитать онлайн книгу.
peripherer entzündlicher Prozesse.
medizinisch unerklärte Körperbeschwerden
In der ambulanten und stationären Versorgung präsentieren mindestens 20–40 % der Patientinnen und Patienten körperliche Beschwerden, für die sich keine organische Ursache finden lässt. Fachärztinnen und -ärzte (z. B. Rheuma-, Schmerz- oder gynäkologische Ambulanz) berichten über vergleichbare Prävalenzen (Creed et al. 2011; Abb. 1.3).
Abb. 1.3: Anteil unerklärter Körperbeschwerden (medically unexplained symptoms, MUS) in unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen (nach Kroenke 2003, bzw. Reid et al. 2001)
Aber auch bei Patientinnen und Patienten mit diagnostizierten chronischen Grunderkrankungen sind die subjektiv als belastend erlebten Symptome (wie Atemnot bei Asthma oder Durchfall bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen) häufig der Hauptfaktor für eine beeinträchtigte Lebensqualität.
Körperbeschwerden bei chronischen Erkrankungen
Auch wenn eine Grunderkrankung sich beispielsweise aus medizinischer Sicht gut durch Medikamente behandeln lässt, bestehen die belastenden Körperbeschwerden oftmals unabhängig davon weiter. Sie gelten dann sogar als Risikofaktoren für einen schlechteren Krankheitsverlauf, schwerwiegendere Komplikationen, eine erhöhten Mortalität, komorbide Depressionen oder Angsterkrankungen sowie für suizidale Gedanken und Absichten (Almutary et al. 2013; Griffiths / Jones 2014; Lehmann et al. 2018; Löwe et al. 2008; Wiborg et al. 2013).
subjektive Belastung unabhängig von Verursachung
Nicht alle Personen mit körperlichen Beschwerden stellen sich in der ärztlichen Praxis vor, sondern vor allem diejenigen, die sich durch ihre Körpersymptome belastet und im Alltag eingeschränkt erleben (Creed et al. 2011). Die subjektive Belastung durch körperliche Symptome ist dabei unabhängig von deren (somatischer oder psychischer) Verursachung.
Psychische Begleiterscheinungen wie mit den Symptomen verbundene Ängste und Sorgen sind oftmals der Hauptgrund für Patientinnen und Patienten, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Joustra et al. 2015).
gesundheitsbezogene Lebensqualität vermindert
Als häufigste Symptome werden in der hausärztlichen Versorgung Schmerzen, Müdigkeit und Schwindel berichtet (Kroenke / Mangelsdorff 1989). Mit zunehmender Dauer und Anzahl von körperlichen Symptomen steigt die Häufigkeit von Arztbesuchen, von komorbiden Angst- und depressiven Störungen sowie von Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität nimmt entsprechend in allen Dimensionen (physische Gesundheit, soziale Kontakte, emotionales Wohlbefinden) ab. Werden die Körperbeschwerden von Krankheitsängsten und -überzeugungen begleitet, steigen das medizinische Inanspruchnahme-Verhalten und die Einschränkungen im Alltag, und auch die Unzufriedenheit mit der ärztlichen Versorgung nimmt zu (Creed et al. 2011).
Da viele Symptome weder direkte Auswirkungen einer organischen Erkrankung (z. B. Krebs, Gefäß- oder Entzündungserkrankungen) noch direkte Folgen einer psychischen Erkrankung (z. B. Depressionen oder Angststörungen) sind, ist die nach wie vor verbreitete dualistische Sichtweise, nach der Symptome entweder als organisch oder psychisch bzw. funktionell klassifiziert werden, nicht haltbar (Kisely / Simon 2006; Kroenke et al. 2010).
kein Dualismus organisch vs. psychisch
Studien konnten wiederholt zeigen, dass Einschätzungen von Behandlerinnen und Behandlern, ob körperliche Symptome sich durch organische Befunde erklären lassen oder nicht, sehr unzuverlässig sind (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013). Je mehr somatische Symptome eine Person berichtet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Symptome auf das Vorhandensein einer zugrunde liegenden Grunderkrankung hindeuten und desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzlich eine komorbide Depression oder Angststörung vorliegt.
hohe Symptomlast als Risikofaktor
Der Leidensdruck der Patientinnen und Patienten, die Funktionseinschränkungen in wichtigen Bereichen des Alltags und das Chronifizierungsrisiko steigen zudem unabhängig von der Ursache der Symptome mit zunehmender Anzahl somatischer Symptome linear an (Jackson et al. 2006).
In der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden gibt es zahlreiche Herausforderungen.
fragmentierte Behandlung
Die medizinische Versorgungsrealität ist gekennzeichnet durch eine fragmentierte Behandlung in spezialisierten Settings (z. B. gastrointestinale Symptome in der Gastroenterologie, Brustschmerzen in der Kardiologie). Auch wenn Patientinnen und Patienten sich tatsächlich oft mit multiplen Symptomen vorstellen, werden diese selten gemeinsam betrachtet oder behandelt (Aaron / Buchwald 2001). Wenn anhaltende Körperbeschwerden eine somatische Grunderkrankung begleiten, wird die subjektive Belastung durch die Symptomatik im Rahmen der Standardbehandlung oft vernachlässigt. In einer Vielzahl der Fälle orientiert sich die Behandlung lediglich an den objektiven Krankheitsparametern. Die belastenden Körperbeschwerden werden häufig weder mit den Patientinnen und Patienten diskutiert noch durch klinische Interventionen adressiert (Henningsen et al. 2018).
eingeschränkte Wirksamkeit von Behandlungsmethoden
Es fehlt an allgemein akzeptierten, evidenzbasierten diagnostischen Konzepten und Behandlungsansätzen für betroffene Patientinnen und Patienten. Obwohl sich bei vielen Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden sowohl mit psychotherapeutischen als auch mit pharmakologischen Interventionen eine Verbesserung ihrer Beschwerden und Beeinträchtigung erzielen lässt, ist die Wirksamkeit aktueller Behandlungsmethoden mit Effektstärken im mittleren Bereich weiterhin verbesserungswürdig.
lange Dauer unbehandelter Erkrankungen
Darüber hinaus bleibt die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden lange unbehandelt oder wird zumindest nicht leitliniengemäß behandelt (Henningsen et al. 2018; Kleinstäuber et al. 2016; Wortman et al. 2018; Herzog et al. 2018).
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich mit ihren Beschwerden von ihren Behandlerinnen und Behandlern nicht ausreichend ernst genommen. Vor allem, wenn sich Symptome nicht hinreichend durch zugrunde liegende physiologische Prozesse oder Erkrankungen erklären lassen, fühlen sich Patientinnen und Patienten manchmal als Simulantinnen und Simulanten missverstanden.
Simulation, d. h. das bewusste Vortäuschen von Symptomen oder Beschwerden, ist in der täglichen Praxis tatsächlich ein eher seltenes Phänomen (Mayou / Farmer 2002). |
Kosten durch anhaltende Körperbeschwerden
Erfolgreiche Ansätze für die Prävention und Früherkennung sowie ein Zugang zu spezialisierter Versorgung für anhaltende Körperbeschwerden werden in der Praxis häufig nicht umgesetzt (Murray et al. 2016). Medizinische Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse oder auch Untersuchungen, die über eine notwendige und angemessene organmedizinische Abklärung hinausgehen, sowie häufige ambulante und stationäre Behandlungsversuche, ohne substanzielle Besserung der Beschwerden, führen dann zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem. Indirekte Kosten entstehen zudem durch Krankschreibungen und Produktivitätsverluste (Konnopka et al. 2013). Die klinische Relevanz von belastenden Körpersymptomen für die Lebensqualität und psychische Gesundheit sowie für die Arbeitsfähigkeit, die Anzahl an Arztbesuchen und verursachten Gesundheitskosten ist entsprechend hoch und vergleichbar mit den Kosten für das Gesundheitssystem, die durch Angst- und depressive Störungen verursacht werden (Barsky et al. 2005).
1.2 Zentrale Begriffe
Die unübersichtliche Terminologie erschwert die Versorgung und Forschung im Bereich anhaltender Körperbeschwerden. Im Rahmen der diagnostischen Konzeption werden derzeit zahlreiche Begrifflichkeiten für anhaltende Körperbeschwerden verwendet.
uneinheitliche