Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel HerzogЧитать онлайн книгу.
bei gutem Wetter kaum noch überreden. Frau L. merkt, dass sich ihre Stimmung in den letzten Monaten deutlich verschlechtert hat; sie fühlt sich irgendwie oft traurig und manchmal fast schon verzweifelt.
Zu ihrer Hausärztin geht Frau L. weiterhin regelmäßig, um den Verlauf der Symptome weiter zu beobachten. Frau K. möchte aber auch mit ihr nach möglichen anderen Ursachen für ihre Schmerzen suchen. Sie hat sie zum Beispiel auch nach Belastungen in ihrem Alltag gefragt. Frau L. findet ihren Beruf als Lehrerin durchaus oft anstrengend, vor allem, seit sie diese neue schwierige Klasse übernehmen musste, in der sie sich irgendwie nicht richtig als Respektsperson akzeptiert fühlt. Außerdem macht sie natürlich viele Überstunden. Es finden ja ständig Elterngespräche statt, und sie möchte sich auch immer gut auf ihren Unterricht vorbereiten. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit für das Privatleben. Dabei wollte sie ja eigentlich auch selbst mal gerne Kinder haben. Frau L. glaubt eigentlich nicht, dass ihre Bauchschmerzen von diesem ganzen Stress kommen, denn auch bei anderen Menschen ist ja viel los und die haben ja auch nicht immer Bauchschmerzen. Frau K. nimmt diese möglichen Hintergründe der Bauchschmerzen aber ernst und rät Frau L. dazu, sich Unterstützung in einer ambulanten Psychotherapie zu suchen, die bei der Bewältigung von unklaren Körperbeschwerden sehr hilfreich sein kann. Frau L. ist etwas skeptisch, aber sie möchte eigentlich nichts unversucht lassen. Bis sich grundlegend etwas an den Schmerzen geändert hat, möchte sie auf jeden Fall lernen, mit den Beschwerden im Alltag besser umzugehen. Sie möchte den Schmerzen nicht mehr so viel Raum geben. Frau K. sagt, man könne auch zusätzlich über ein Antidepressivum nachdenken, Frau L. möchte es aber erstmal ohne versuchen.
Drei Monate später hat Frau L. bereits mehrere Sitzungen Psychotherapie absolviert. Frau L. hat festgestellt, dass ihre Stimmung sich bereits deutlich gebessert hat und sogar auch die Häufigkeit und Schwere ihrer Bauchschmerzen etwas zurückgegangen sind. Obwohl die Schmerzen nicht weg sind, scheinen sie besser zu bewältigen zu sein. Frau L. unternimmt auch schon wieder mehr mit Freunden und ihrem Mann. Ihre Hausärztin sieht sie regelmäßig, alle vier Wochen, um Fortschritte zu besprechen und zu überprüfen, ob neue Beschwerden oder Veränderungen im Charakter ihrer Bauchschmerzen auftreten. Frau L. hat allmählich das Gefühl, wieder in ihr altes Leben zurückzukehren.
1.1.2 Klinische Relevanz
Anhaltende Körperbeschwerden sind häufig. Der Begriff bezeichnet subjektiv belastende körperliche Symptome, die unabhängig von ihrer Verursachung mindestens über einen Zeitraum von mehreren Monaten bestehen und dabei an den meisten Tagen vorhanden sind (WHO 2018). |
Anhaltende Körperbeschwerden
■Oberbegriff für subjektiv belastende somatische Symptome
■unabhängig von Ätiologie (≠ Psychogenese)
■über längeren Zeitraum anhaltend (mehrere Monate)
Patientinnen und Patienten mit dieser Art von Beschwerden sind in allen medizinischen Fachrichtungen und Stufen der medizinischen Versorgung bekannt. In der medizinischen Grundversorgung (hausärztliche Versorgung / Allgemeinmedizin) werden die meisten Patientinnen und Patienten mit subjektiv belastenden Körpersymptomen versorgt (Creed at al. 2011; Kroenke / Mangelsdorff 1989). Aber auch bei spezialisierten Fachärztinnen und Fachärzten oder in psychiatrischen und psychosomatischen Settings berichten Patientinnen und Patienten anhaltende und belastende Schmerzen und / oder gastroenterologische, kardiovaskuläre, urogenitale oder neurologische Symptome (Nimnuan et al. 2001).
Abb. 1.1: Häufige Beschwerden in der Hausarztpraxis
Lebensqualität, Funktionalität deutlich beeinträchtigt
Unabhängig von ihrer Verursachung beeinträchtigt diese Art von Symptomen die Lebensqualität und Funktionalität vieler Patientinnen und Patienten erheblich (Klaus et al. 2013; Joustra et al. 2015). In der Hausarztpraxis häufig berichtete Beschwerden finden sich in Abb. 1.1.
Beispiele für typische Beschwerden in spezialisierten Facharztpraxen
Gastroenterologie:
Schluckbeschwerden, Erbrechen, Sodbrennen, Husten, Schmerzen hinter dem Brustbein, Druckgefühl im Oberbauch, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Druckschmerz im Magenbereich, Stuhlunregelmäßigkeiten wie Durchfall oder Verstopfung, Schmerzen bzw. Krämpfe im Bauchbereich, Blähungen
Kardiologie:
Schlafstörungen, Ohrensausen, Ohrgeräusche (Tinnitus), Kopfschmerzen, Schwindel, Hitzewallungen, Atemnot, Brustschmerzen, Engegefühl in der Brust
Urologie:
Schmerzen bei der Blasenentleerung, Harnzwang, Harndrang, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
Neurologie:
Schwindel, Zittern, Taubheitsgefühle, Lähmungen, Sehstörungen, einschlafende Gliedmaßen, Erschöpfung
häufige körperliche Beschwerden
Umfragen in der deutschen Allgemeinbevölkerung bestätigen, dass bis zu 80 % der Menschen im vergangenen Monat zumindest leicht durch Körperbeschwerden beeinträchtigt waren (Hinz et al. 2017; Abb. 1.2). Die Beschwerden stehen dabei manchmal im Zusammenhang mit einem psychischen Faktor (wie z. B. Kopfschmerzen bei Ärger) oder einem körperlichen Faktor (wie z. B. Rückenschmerzen nach langem Stehen), häufig bleibt der Zusammenhang auch vollkommen unklar (Känel et al. 2016).
Während viele dieser Symptome vorübergehend sind und von selbst wieder verschwinden, entwickelt etwa ein Viertel der Betroffenen chronische Beschwerden, die auch ein Jahr nach dem ersten Auftreten weiterhin vorhanden sind und den Alltag deutlich einschränken.
Abb. 1.2: Umfrage (n=9250) in der deutschen Allgemeinbevölkerung zu vorhandenen Körperbeschwerden in den letzten 4 Wochen (Angaben in Prozent; nach Hinz et al. 2017)
Chronifizierung
In der hausärztlichen Versorgung berichten Patientinnen und Patienten über einen Beobachtungszeitraum von drei Jahren in 40 % der Fälle über anhaltende und in je 30 % der Fälle über gebesserte bzw. vollständig abgeklungene Beschwerden (Kroenke 2014).
Risikofaktoren und Entwicklung
Mit steigender Anzahl vorliegender Symptome erhöht sich dabei das Chronifizierungsrisiko. Auch ein weibliches Geschlecht gilt als Risikofaktor, denn Frauen tragen ein nahezu doppelt so hohes Risiko, chronische Beschwerden zu entwickeln wie Männer. Da auch eine psychische Komorbidität als Risikofaktor für den chronischen Verlauf von belastenden Körperbeschwerden gilt, sollten Ärztinnen und Ärzte in der Anamnese belastender Körperbeschwerden immer auch eine möglicherweise vorliegende depressive oder Angstsymptomatik erfragen. Häufig entwickeln sich anhaltende Körperbeschwerden in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und dauern dann über die gesamte Lebensspanne an (Leiknes et al. 2007).
Verlauf belastender körperlicher Beschwerden
■Insgesamt häufig chronisch, wobei einzelne Symptome oft wenig stabil sind und wechseln
■Ca. 1 / 3 der Symptome remittieren innerhalb von 6 Monaten (Arnold et al. 2006)
■Ca. 1 / 3 der Patientinnen und Patienten hat nach 10 Jahren noch Beschwerden (Leiknes et al. 2007)
Risikofaktoren für chronischen Verlauf
■Multiple Symptome
■Weibliches Geschlecht
■Depressivität bzw. psychische Komorbidität
Bei vielen anhaltenden Körperbeschwerden finden sich keine identifizierbaren