Professor Unrat. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
an ihrer Wurzel fühlt. Und den aus dem »Kabuff« Zurückgekehrten
und allen andern, die ihn je angetastet hatten, vergaß Unrat es nie. Da
er seit einem Vierteljahrhundert an der Anstalt wirkte, waren Stadt und
Umgegend voll von seinen ehemaligen Schülern, von solchen, die er bei
Nennung seines Namens »gefaßt« oder denen er es »nicht hatte beweisen«
können, und die alle ihn noch jetzt so nannten! Die Schule endete für
ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser
ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen
störrische, verworfene Burschen, die »ihr's« nicht »präpariert« hatten
und den Lehrer befeindeten. Ein Neuer, noch ahnungslos, bei dem zu Haus
ältere Verwandte über den Professor Unrat gelacht hatten wie über eine
Jugenderinnerung von freundlicher Komik, und der nun mit dem Schub zu
Ostern in Unrats Klasse gelangt war, konnte sich bei der ersten falschen
Antwort anfauchen hören:
»Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt. Ich hasse Ihre ganze
Familie!«
* * * * *
Unrat auf seinem erhabenen Posten über all den Köpfen genoß seine
vermeintliche Sicherheit; und inzwischen war neues Unheil am Ausbrechen.
Es kam von Lohmann.
Lohmann hatte seinen Aufsatz sehr kurz abgetan und dann zu einer
Privatbeschäftigung gegriffen. Die wollte aber nicht vorwärtskommen,
denn der Fall seines Freundes von Ertzum wurmte Lohmann. Er hatte sich
gewissermaßen zum moralischen Schutzherrn des kräftigen jungen Edelmanns
aufgeworfen und betrachtete es als ein Gebot der eigenen Ehre, die
geistige Schwäche des Freundes, wo es ging, mit seinem so hoch
entwickelten Hirn zu decken. Im Augenblick, wo von Ertzum eine unerhörte
Dummheit sagen wollte, räusperte Lohmann sich lärmend und soufflierte
ihm darauf das Richtige. Die unbegreiflichsten Antworten des andern
machte er den Mitschülern achtbar durch die Behauptung, von Ertzum habe
den Lehrer nur »wütend ärgern« wollen.
Lohmann war ein Mensch mit schwarzen Haaren, die über der Stirn sich
bäumten und zu einer schwermütigen Strähne zusammenfielen. Er hatte die
Blässe Luzifers und eine talentvolle Mimik. Er machte Heinesche Gedichte
und liebte eine dreißigjährige Dame. Durch die Erwerbung einer
literarischen Bildung in Anspruch genommen, konnte er der Schule nur
wenig Aufmerksamkeit gewähren. Das Lehrerkollegium, dem es aufgefallen
war, daß Lohmann immer erst im letzten Quartal zu arbeiten begann, hatte
ihn trotz seiner zum Schluß genügenden Leistungen sitzen lassen, schon
in zwei Klassen. So saß Lohmann, grade wie sein Freund, mit siebzehn
Jahren noch unter lauter Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Und wenn von
Ertzum dank seiner körperlichen Entwicklung zwanzig zu sein schien, so
erhöhten sich Lohmanns Jahre dadurch, daß ihn der Geist berührt hatte.
Was mußte nun einem Lohmann der hölzerne Hanswurst dort auf dem Katheder
für einen Eindruck machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel.
Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse
fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten
Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenkten Lidern die ärmliche
Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut,
die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf
seine eigenen geschliffenen Fingernägel. Unrat haßte Lohmann beinahe
mehr als die andern, wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit, und fast
auch deshalb, weil Lohmann ihm =nicht= seinen Namen gab; denn er fühlte
dunkel, das sei noch schlimmer gemeint. Lohmann vermochte den Haß des
armen Alten beim besten Willen nicht anders zu erwidern als mit matter
Geringschätzung. Ein wenig von Ekel beträufeltes Mitleid kam auch hinzu.
Aber durch die Kränkung von Ertzums sah er sich persönlich
herausgefordert. Er empfand, als der einzige unter dreißig, Unrats
öffentliche Lebensbeschreibung des von Ertzumschen Onkels als eine
niedrige Handlung. Zuviel durfte man dem Schlucker dort oben nicht
erlauben. Lohmann entschloß sich also. Er stand auf, stützte die Hände
auf den Tischrand, sah dem Professor neugierig beobachtend in die Augen,
als habe er einen merkwürdigen Versuch vor, und deklamierte vornehm
gelassen:
»Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend
nach Unrat.«
Unrat machte einen Sprung im Sessel, spreizte beschwörend eine Hand und
klappte stumm mit den Kiefern. Hierauf war er nicht vorbereitet gewesen
-- nachdem er noch soeben einem Verworfenen die Relegation in Aussicht
gestellt hatte. Sollte er nun auch diesen Lohmann »fassen«? Nichts wäre
ihm erwünschter gekommen. Aber -- konnte er es ihm »beweisen«?.. In
diesem atemlosen Augenblick reckte der kleine Kieselack seine blauen
Finger mit den zerbissenen Nägeln in die Höhe, knallte mit ihnen und
keifte gequetscht:
»Lohmann läßt einen nicht ruhig nachdenken, er sagt immer, hier riecht
es nach Unrat.«
Es entstand Kichern, und einige scharrten. Da ward Unrat, der schon den
Wind des Aufruhrs im Gesicht spürte, von Panik ergriffen. Er fuhr vom
Stuhl auf, machte über das Pult hinweg eckige Stöße nach allen Seiten,
wie gegen zahllose Anstürmende, und rief:
»Ins Kabuff! Alle ins Kabuff!«
Es wollte nicht ruhig werden; Unrat glaubte sich nur noch durch einen
Gewaltstreich retten zu können. Er stürzte sich, ehe jener es vermuten
konnte, auf Lohmann, packte ihn am Arm, zerrte und schrie erstickt:
»Fort mit Ihnen, Sie sind nicht länger würdig, der menschlichen
Gesellschaft teilhaftig zu sein!«
Lohmann folgte, gelangweilt und peinlich berührt. Zum Schluß gab Unrat
ihm einen Ruck und versuchte ihn gegen die Tür des Garderobengelasses