Tom Sawyers Abenteuer. Mark TwainЧитать онлайн книгу.
die Jungen zu bestechen, wieder auf.
Aus diesem dunkeln, hoffnungslosen Brüten fuhr er plötzlich empor. Ein Einfall war ihm gekommen, eine große glänzende Idee dämmerte in ihm auf. Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich ruhig ans Werk. Ben Rogers, der Junge, dessen Spott er am meisten fürchtete, kam in Sicht. Ben kam hüpfend und springend, – Beweis genug für sein leichtes Herz und seine hochgespannten Erwartungen. Er verspeiste einen Apfel und stieß von Zeit zu Zeit einen langen, melodiösen Schrei aus, dem ein tiefes Ding-dong-dong, Ding-dong-dong nachfolgte; denn er agierte ein Dampfboot.
In der Nähe Toms angekommen, mäßigte er seinen Kurs, nahm die Mitte der Straße, hielt weit Steuerbord und drehte unter großem Aufwand von Mühe und Pomp bei, denn er agierte den »Großen Missouri« und betrachtete sich als 9 Fuß Wasser ziehend. Er vereinigte in seiner Person Schiff, Kapitän und Signalglocke, und hatte in diesen Eigenschaften von seinem Sturmdeck aus die Befehle zu erteilen und zu vollziehen.
»Stopp, Sire! Kling-ling-ling!«
Er war rechts am Rande der Straße angekommen, und bog nun langsam gegen den Seitenpfad, wo endlich der »Große Missouri« nach manchem Kommandoruf, manchem Tschau-tschau-tschau der Räder, manchem Kling-ling der Glocke und manchem Ssch-sch-sch der Dampfhahnen vor Anker ging.
Tom fuhr in seiner Arbeit fort, ohne sich um das Dampfboot zu kümmern.
Ben sah zu, und rief dann: »Holla! Gelt, das gefällt dir nicht?«
Keine Antwort. Tom überschaute seinen letzten Anstrich mit künstlerischem Auge; noch ein schwungvoller, graziöser Pinselstrich, und gleiche Bewunderung der Arbeit.
Ben trat hart an ihn heran. Toms Mund wässerte vor Begierde nach dem Apfel, er ließ sich aber in der Arbeit nicht stören.
Dann sagte Ben: »Nun, alter Kamerad, musst du arbeiten? Nicht?!«
Tom wandte sich rasch um und sagte: »Wie, bist du da, Ben? Ich hatte dich nicht bemerkt!«
»Ja, ich gehe schwimmen. Möchtest du nicht auch? Aber du musst arbeiten. Gelt, du musst?«
Tom sah ihn kurz an und erwiderte: »Was nennst du arbeiten?«
»Was? ist vielleicht Tünchen keine Arbeit?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Was ich weiß, ist, dass ich Vergnügen daran finde.«
»O, du willst mir vorspiegeln, dass es dir gefällt?«
Der Pinsel fuhr auf und ab.
»Gefallen? Warum sollte es nicht? Glückt es vielleicht jedem Jungen, einmal einen Zaun tünchen zu dürfen?«
Das brachte die Sache in ein neues Licht. Ben, an seinem Apfel nagend, schwieg. Tom fuhr mit seinem Pinsel zierlich hin und her, trat einige Schritte zurück, um den Effekt zu beurteilen, half hie und da nach, kritisierte den Effekt wieder, während Ben zusah, und je länger, je mehr Interesse an der Geschichte fand.
Plötzlich sagte er: »Höre, Tom, lass mich ein wenig tünchen!«
Tom dachte nach; er war auf dem Punkte, seine Einwilligung zu geben, änderte aber seinen Vorsatz: »Nein, nein, ich darf es nicht wagen, Ben! Siehst du, Tante Polly ist ganz besonders auf diese Seite, der Straße zu, erpicht; ja, wenn es die Rückseite wäre, könnte es mir nicht darauf ankommen und sie würde nichts merken. Traurig aber wahr, sie hängt an diesem Zaun mit Leib und Seele; der Anstrich muss mit größter Sorgfalt ausgeführt werden, und ich wette, dass unter tausend, vielleicht zweitausend Jungen kein einziger zu finden ist, der es kann!«
»So, meint sie? Komm, lass mich einmal probieren. Nur ein klein wenig – wenn ich du wäre, Tom, würde ich dich lassen.«
»Lieber Ben, ich möchte es gerne, aber Tante Polly – sieh! Jim wollte, Sid wollte, aber sie wollte nicht. Siehst du nun, in welcher Klemme ich bin? Wenn du den Zaun verderbtest, oder irgend etwas vorkäme –«
»Unsinn! Ich werde Achtung geben. Lass mich nur probieren. Du sollst den Butzen meines Apfels dafür haben.«
»Nun ja! Da! Aber nein, Ben, ich fürchte –«
»Ich gebe dir den ganzen Apfel!«
Tom überließ ihm den Pinsel mit widerstrebender Miene, aber frohen Herzens. Und während das weiland Dampfboot »Der große Missouri« in der Sonnenhitze arbeitete und schwitzte, saß der weiland Künstler im nahen Schatten, baumelte mit den Beinen – kaute seinen Apfel und sann auf neue harmlose Opfer. An Material fehlte es nicht. Knaben gingen immer vorbei, sie kamen um zu spotten und blieben um zu tünchen.
Bevor Ben müde war, hatte Tom schon mit Billy Fisher für einen gut konditionierten Papierdrachen abgeschlossen; nach diesem kam Johney Milbs für eine tote Ratte und eine Schnur, um sie damit zu schwingen etc., Stunde um Stunde. Und um 4 Uhr nachmittags wälzte sich der morgens früh so arme Tom im Reichtum. Außer den oben erwähnten Sachen besaß er nun zwölf Marmel, ein Stück einer Maultrommel, eine Scherbe blauen Flaschenglases, um durchzuschauen, das Rohr einer Spule, einen unbrauchbaren Schlüssel, ein Stück Kreide, einen gläsernen Karaffenpfropf, einen Zinnsoldaten, ein paar Kaulquappen, 6 Raketen, eine junge einäugige Katze, einen messingenen Türknopf, ein Hundehalsband, aber keinen Hund dazu – ein Messerheft, 4 Stück Pomeranzenschale und ein altes zerbrochenes Schiebefenster.
Er hatte eine hübsche, angenehme Zeit dabei gehabt – an Gesellschaft hatte es nicht gefehlt, und der Zaun war mit drei Lagen übertüncht. Wenn er das Tünchergeschäft fortgesetzt hätte, wäre bald jeder Dorfjunge insolvent geworden.
Tom fand, dass, eins ins andere gerechnet, das Leben doch nicht so schal sei. Unbewusst hatte er eine große Triebfeder des menschlichen Strebens entdeckt: die nämlich, dass mit den in den Weg sich stellenden Schwierigkeiten zur Erreichung eines Zweckes die Anstrengungen sich steigern. Wäre er ein großer, weiser Philosoph gewesen, wie z. B. der Schreiber dieses Buches, so wäre ihm nun klar geworden, dass Arbeit das ist, was man tun muss, und Spiel dasjenige, wozu man nicht gezwungen ist. Er hätte begriffen, dass die Herstellung von künstlichen Blumen oder das Treiben eines Scherenschleiferrades Arbeit – hingegen das Besteigen des Mont-blanc und das »Alle Neune«-werfen beim Kegelspiel Unterhaltungen sind. Es gibt reiche Leute in England, welche im heißen Sommer 20 bis 30 Meilen täglich vierspännig fahren, nur weil die Erlaubnis dazu viel Geld kostet; wenn sie es aber tun müßten und man sie noch dafür bezahlen wollte, so hätte der Spaß bald ein Ende.
Tom brütete eine Zeitlang über den Wechsel seiner finanziellen Verhältnisse und ging dann zum Rapport ins Hauptquartier, d. h. nach Hause.
Drittes Kapitel
Tom als General – Triumph und Belohnung – Unbehagliches Glück – Auftrag und Versäumnis
Tom fand seine Tante in einem hübschen Hinterzimmer am offenen Fenster sitzend. Das Zimmer vereinigte in sich die Eigenschaften eines Schlaf-, Frühstück-, Speise- und Lesezimmers. Die würzige Sommerabendluft, die träumerische Stille, der Blumenduft und das einschläfernde Summen der Bienen hatten ihre Wirkung auf die Tante nicht verfehlt. Sie schlummerte über ihrem Strickstrumpf; ihre einzige Gesellschaft, die Katze, war in ihrem Schoße eingeschlafen. Die Brille war sorgfältig über ihre grauen Haare zurückgeschoben. Sie war mit sich selbst schon einig, dass Tom die Arbeit längst im Stiche gelassen, und staunte über die Sicherheit, mit der er sich ihr mit den Worten überlieferte: »Darf ich jetzt nicht spielen gehen, Tante?«
»Was, jetzt schon? Wieweit bist du mit deiner Arbeit?«
»Fix und fertig, Tante!«
»Lüge nicht, Tom! Du weißt, ich kann es nicht leiden!«
»Ich lüge nicht, Tante! Alles ist fertig!«
Tante Polly traute ihm nur halb; sie erhob sich, um selbst nachzusehen, und wäre zufrieden gewesen, wenn sie auch nur den fünften Teil von Toms Behauptung wahr gefunden hätte. Maßlos