Vornehme Geschwister. Catherine St.JohnЧитать онлайн книгу.
„Meine Mama steht dort hinten und unterhält sich mit einem sehr dicken Herrn.“
Cora reckte so unauffällig wie möglich den Kopf und sah gerade noch eine spiegelblanke Glatze, die durch einen üppigen weißen Backenbart mehr als ausreichend ausgeglichen wurde. Nun ja – wohl nicht viel mehr als dreimal so alt wie die vielleicht siebzehnjährige Selina. Vielleicht war er ein reizender Mensch?
Oder ein lüsterner Greis, so etwas hatte Cora bei ihrem Debüt schon erlebt und sich sehr handgreiflich zur Wehr gesetzt. Ob Selina das auch wagen würde? Sie beschloss, das Mädchen ein wenig im Auge zu behalten, soweit das möglich war, denn sie würden ja wohl nicht ewig in London bleiben.
Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie überlegte, dass sie vielleicht bleiben würden, bis Diane einen Mann gefunden hatte. Nun, das konnte dauern…
Die Musik setzte nach einigen eher misstönenden Stimmversuchen ein und ein junger Mann mit blondem Tituskopf und einer sehr aufregenden Weste holte Cora zum Tanz. Selina wurde von einem etwas gesetzteren Herrn aufgefordert, der nur durch eine sehr streng gebundene Krawatte auffiel. Ein ehemaliger Militär vielleicht?
Amüsanterweise fanden sie sich im selben Karrée wieder und lächelten sich gelegentlich zu, wenn sie sich gemessenen Schrittes umeinanderdrehten, bevor sie zu ihren Herren zurückkehrten. Miss Selinas Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, sie tanzte noch ein wenig steif, aber tadellos und ohne über eigene oder fremde Füße zu stolpern.
Dazwischen gab es ein ständig unterbrochenes Gespräch mit dem blonden Jüngling, der sich als Sir Harold vorgestellt und gleich verkündet hatte, er hasse Lord Byron einfach, weil ihn seit Childe Harold jedermann auf seinen Namen ansprach. Cora war daraufhin recht froh, dass sie den albernen Witz nicht auch angebracht hatte.
Der korrekte Offizier und Miss Selina lächelten sich gelegentlich zu und wechselten wenige Worte – und dann verklang die Musik auch schon wieder.
Den Ländler ließ Cora bereitwillig aus; es hatte seine Vorteile, wenn man nicht alle Tänze vergeben hatte!
Ihre Mutter unterhielt sich immer noch mit ihrer Nachbarin, Diane war nirgendwo zu sehen, tanzte aber auch nicht. Miss Selina stand mit ihrem Tänzer vor dem Buffet und nippte an einem Glas, was Cora sehr zufrieden stellte.
Aber wo war Diane? So dumm, nach draußen zu gehen, war sie keinesfalls. Gut, wenn es darum ging, einen Herzog einzufangen – darunter täte sie es ja doch nicht, überlegte Cora und kräuselte dabei unwillkürlich die Mundwinkel.
Kannte sie hier eigentlich jemanden?
Sich umzusehen war ja recht nett, aber allmählich bereute sie, dass sie keinen kleinen Roman in ihrem Retikül mitgebracht hatte.
„Lady Cora! Man sieht Sie ja eher selten in der Stadt!“
Sie sah hastig auf und erhob sich ehrerbietig – die Gastgeberin persönlich ließ sich herab!
„Mrs. Ramsworth… ja, meistens bin ich auf Gave Court. Zunächst sollte ja wohl meine Schwester eine Partie finden, nicht wahr?“
„Das dürfte sich etwas hinziehen“, kommentierte Mrs. Ramsworth versonnen und lächelte Cora verschmitzt zu. „ich könnte mir vorstellen, dass Sie die größeren Chancen haben, Lady Cora. Im Übrigen kann ich Ihr raffiniertes Kleid nur bewundern! Wo haben Sie es machen lassen?“
„Wenn ich ganz ehrlich bin – nirgendwo. Ich nähe leidenschaftlich gerne und verwerte gerne kostbare alte Stoffe.“ Sie stockte und sah Mrs. Ramsworth nervös an, was ihr ein Armtätscheln eintrug. „Keine Sorge, Lady Cora, ich werde schweigen. Aber noch einmal: Respekt vor dieser Leistung! Oh, und mir scheint, da kommt ihr nächster Tänzer. Einer, der absolut kein Hohlkopf ist – wie leider so manche hier im Ballsaal.“
„Eine wertvolle Information, Mrs. Ramsworth. Herzlichen Dank“, erwiderte Cora trocken. Die Gastgeberin lachte auf, tätschelte ihr noch einmal den Arm und erhob sich elegant. „Dann also viel Vergnügen beim Walzer!“
Einen Moment später verbeugte sich der Mann, über den sich Diane so geärgert hatte, vor ihr, während das Orchester einen Walzer präludierte.
Cora lächelte höflich und ließ sich auf die Tanzfläche führen.
Im Stillen ärgerte sie sich über sich selbst: ein so gutaussehender Tänzer und Mrs. Ramsworth zufolge auch ein kluger Mann – warum hatte sie seinen Namen vergessen?
„Lady Cora, Sie tanzen ausgezeichnet“, lobte er nach zwei, drei Drehungen.
„Danke schön. Ich kann das Kompliment nur erwidern“, antwortete sie höflich, aber wahrheitsgemäß. Eleganz war die Eigenschaft, die einem bei ihm einfiel.
Sie nahm ihren Mut zusammen. „Es tut mir leid, Sir, aber ich war länger nicht mehr in London, deshalb sind mir nahezu alle Personen hier unbekannt.“
Sie überlegte, wie sie besonders vorsichtig weiterformulieren sollte, aber er lächelte nachsichtig. „Sie können sich nicht mehr auf meinen Namen besinnen? Das ist doch auf diesen Bällen ganz natürlich. Ich bin Hartford.“
„Viscount Hartford? Dann, glaube ich, hat mein Bruder, einmal von Ihnen erzählt. Ging es nicht um einen Plan zur Verbesserung des Getreidetransports?“
„Oh! Ich bin beeindruckt.“
Sie sah mit hochgezogenen Brauen zu ihm auf. „Dass ein weibliches Wesen sich so schwierige Sachverhalte merken kann?“
Er zog sie in eine besonders schwungvolle Drehung und antwortete amüsiert: „Eine Frauenrechtlerin? Interessant – aber ich hatte mich nur gewundert, weil ich - ehrlich gesagt - Vilmont eine Neigung zur Wirtschaftspolitik gar nicht zugetraut hätte.“
Cora lachte schallend. „N-nein, da haben Sie auch ganz Recht. Vilmonts Interessen liegen ganz woanders. Ich habe noch einen Bruder, Vergil, und er ist ein begeisterter Landwirt und kennt seine Verantwortung.“
„Das, Lady Cora, hört man natürlich gerne.“
„Woher kannten Sie denn eigentlich meinen Namen, Mylord?“
„Ich kenne jeden, Mylady.“
Er studierte kurz ihr sicherlich verdutztes Gesicht, dann lachte er auf. „Nein, natürlich nicht. Ich habe Lynet gefragt.“
„Viscount Lynet? Eigenartig. Ich wusste gar nicht, dass er mich kennt!“
„Ich glaube, er hat einmal Ihre Schwester und Vilmont kennengelernt.“
„Dann sind Sie ein mutiger Mann, Mylord.“
„Ach ja?“
„Nun, hat Viscount Lynet Ihnen nicht energisch abgeraten? Diese Thurstons?“
„Sind denn alle Thurstons gleich? Ich habe schon aus der Entfernung feststellen können, dass Sie sich zumindest von Ihrer Schwester zu unterscheiden scheinen. Über Vilmont kenne ich nur Gerüchte, und ihren anderen Bruder – Vergil? – habe ich noch nie getroffen. Leider, sollte ich wohl sagen?“
„Was Vilmont betrifft – seien Sie froh, auch wenn das recht unschwesterlich klingt. Vergil dagegen ist wirklich ein netter Bruder.“
Der Walzer verklang und Hartford küsste Cora formvollendet die Hand. „Ich habe mich lange nicht mehr so nett während eines Walzers unterhalten. Vielleicht wiederholen wir das bei Gelegenheit?“
„Gerne“, antwortete Cora und knickste anmutig, bevor sie sich zu ihrem Platz zurückführen ließ.
„War das Hartford?“, fragte ihre Mutter. Cora bejahte. „Man kann sich gut mit ihm unterhalten.“
„Das ist doch nicht wichtig! Glaubst du, er wäre etwas für Diane? Zur Not, meine ich?“
„Was bitte meinen Sie mit zur Not, Mama?“
„Nun, ein Viscount ist ja eigentlich schon von vergleichsweise niedrigem Adel. Aber ob Diane noch die große Auswahl hat…“ Ein tiefer Seufzer folgte.