Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole FranceЧитать онлайн книгу.
sicher, daß sie so eine ist, – ja, sie ist so eine –«
Aber im Grunde seines Herzens machte er ihr keinen Vorwurf daraus. Und deswegen verachtete er sie auch nicht. Im Gegenteil. Er bewunderte Madame Laure, weil sie sparsam war und es verstand, etwas für ihre alten Tage zurück zu legen. Früher hatten beide gern miteinander geschwatzt. Sie hatte ihm dann von ihren Eltern erzählt, die auf dem Lande wohnten; und beide hegten den großen Wunsch, einen kleinen Garten zu besitzen, um Gemüse darin zu ziehen und Geflügelzucht zu treiben.
Madame Laure war eine gute Kundin gewesen, und als Crainquebille nun sehen mußte, daß sie ihren Kohl bei dem kleinen Martin kaufte, bei diesem elenden Knirps, diesem Lausbuben, da war ihm der Schreck in alle Glieder gefahren, und wie sie ihn obendrein noch so verächtlich behandelt hatte, da war ihm die Galle übergelaufen.
Das Schlimmste war, daß Madame Laure nicht die einzige war, die ihn wie einen Aussätzigen behandelte.
Alle taten, als kennten sie ihn nicht mehr.
Die Schusterfrau, die Schlächtermeisterin, alle wandten sich verächtlich von ihm ab. Die ganze Gesellschaft in dem Viertel wollte nichts mehr von ihm wissen.
Also bloß, weil er vierzehn Tage gesessen hatte, war er nun nicht mehr gut genug, Gemüse zu verkaufen! War das wohl gerecht? Hatte es Sinn und Verstand, einen alten braven Mann Hungers sterben zu lassen, einzig und allein, weil er mit einem »Putz« in Konflikt geraten war?
Wenn er sein Gemüse nicht mehr los wurde, so konnte er sich nur hinlegen und krepieren.
Das erbitterte den Alten.
Nach seinem Streit mit Madame Laure hatte er Händel über Händel. Um die geringste Kleinigkeit stritt er. Mit den Kunden war er grob und schimpfte ungeduldig, wenn mal einer ein bißchen lange zwischen seinen Waren suchte.
In der Wirtsstube zankte er mit allen, so daß sein Freund, der Kastanienhändler, ihn nur noch »altes Stachelschwein« nannte. Und wirklich wurde Crainquebille von Tag zu Tag unleidlicher. Er schlief schlecht, war übel gelaunt und hatte immer ein böses Maul.
Das Unglück machte ihn ungerecht. Er rächte sich an denen, die nichts Böses gegen ihn im Sinn hatten und oft auch an Schwächeren. So gab er eines Tages dem kleinen Alphons, dem Sohn eines Weinhändlers, eine Ohrfeige, als das Kind ihn fragte, ob es im Gefängnis schön sei.
»Unverschämter Bengel«, schalt er, »wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, so säße dein Vater im Loch, anstatt reich zu werden bei seinen Giftmischereien.«
Wort und Handlung machten ihm keine Ehre, denn wie sein Freund, der Kastanienverkäufer, ihm gerechterweise vorwarf – Kinder soll man nicht schlagen und ihnen ihre Eltern vorwerfen, die sie sich ja nicht selbst gewählt haben.
Er fing an zu trinken. Je weniger er verdiente, desto mehr trank er. Und da er früher sehr sparsam und mäßig gewesen war, wunderte er sich über sich selbst:
»Ich bin doch sonst kein liederlicher Mensch gewesen. Man wird wohl immer unvernünftiger, je älter man wird«, philosophierte er.
Oft ärgerte er sich über seine Bummelei und Faulheit. »Alter Lump«, schalt er sich, »du taugst rein zu gar nichts mehr.«
Manchmal versuchte er sich selbst zu betrügen, dann redete er sich ein:
»Muß doch von Zeit zu Zeit ein Glas trinken, das stärkt die müden Glieder. Da ist sicher etwas nicht in Ordnung in dem alten Magen, und da hilft nichts, als ‘n Glas Kirsch.«
Oft verpaßte er nun in den Markthallen frühmorgens die Anfuhr und den Großverkauf der Gemüse, dann mußte er alte, verdorbene Ware nehmen, die man ihm auf Kredit gab.
Einmal fühlte er sich an Leib und Seele so matt und gebrochen, daß er seinen Wagen in der Remise stehen ließ. Den ganzen Tag verbrachte er in den Wirtshäusern bei den Markthallen, und abends saß er zusammengekauert und bedrückt auf einem umgestülpten Korb und grämte sich über seine Verkommenheit.
Er dachte an seine frühere Kraft und Leistungsfähigkeit, an die schweren Mühen, die er ausgestanden hatte und den glücklichen Gewinn, den er heimtrug, an all die zahllosen Tage, die einander so glichen, so ausgefüllt gewesen waren.
Er sah sich wieder, wie er in der Nacht in den Markthallen auf die Anfuhr der Gemüse wartete. Dann wurde der Wagen sorgfältig und kunstgerecht beladen, stehenden Fußes noch ein Schluck schwarzer Kaffee hinunter getrunken bei Mutter Theodora, und dann wurde der Karren mit fester Hand in Bewegung gesetzt.
Kräftig und hell wie ein Hahnenschrei klang sein Ruf durch den frühen Morgen, wenn er durch die Straßen fuhr.
Sein ganzes unschuldiges und hartes Leben, das er während eines halben Jahrhunderts geführt hatte, zog an seinem geistigen Auge vorüber. Wie er tagaus, tagein wie ein Lasttier auf seiner rollenden Auslage den müden Städtern die frische Ernte der Gemüsegärten gebracht hatte.
Und seufzend schüttelte er den Kopf:
»Ne, ne, ich kann nicht mehr, mit mir ist es aus. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Seit meiner Geschichte bei Gericht bin ich ganz verändert. Ich bin gar nicht mehr derselbe Mensch.«
Kurz und gut, Crainquebille war moralisch vernichtet. Wenn einer mal erst soweit ist, so kommt er nicht mehr in die Höhe, und die Menschen verhöhnen ihn, statt ihm zu helfen.
Die letzten Folgen.
Das Elend kam, das schwarze Elend. Der alte Mann, der früher aus der Vorstadt Montmartre die Taschen voll fünf Francsstücken zurückbrachte, hatte jetzt keinen Pfennig mehr.
Es war Winter. Aus seinem Verschlag war er ausgewiesen, nun schlief er in einer Remise.
Es regnete seit 24 Stunden, die Abzugskanäle waren verstopft, die Gossen liefen über, und die Remise stand unter Wasser.
Crainquebille saß zusammengekauert in seinem Wagen über den stinkenden Pfützen zwischen Spinnen, Ratten und ausgehungerten Katzen und starrte dumpfbrütend vor sich hin.
Ihn fror. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und zudecken konnte er sich auch nicht, denn sein Freund, der Kastanienhändler, hatte ihm die Säcke wieder weggenommen, die er ihm geliehen hatte.
Er dachte an die beiden Wochen, wo ihm die Stadt Nahrung und Wohnung gegeben hatte. Er beneidete die Gefangenen, die weder von Hunger noch von Kälte zu leiden hatten, und plötzlich kam ihm ein Einfall:
»Ich kenne ja jetzt den Kniff«, sagte er sich, »warum sollte ich ihn nicht brauchen«.
Er stand auf und ging auf die Straße hinaus. Es mochte eben elf Uhr sein. Die Nacht war dunkel und rauh, ein dichter, durchdringender Nebel fiel hernieder.
Die wenigen Leute auf der Straße drängten sich hart an den schützenden Mauern der Häuser entlang.
Crainquebille ging an der St. Eustache-Kirche vorüber und bog in die Rue Montmartre ein. Sie lag ganz verödet da. Nur ein Schutzmann stand auf dem Trottoir hinter der Kirche an einen Laternenpfahl gelehnt, und der seine rieselnde Regen bildete einen rötlichen Dunst um das Gaslicht. Er fiel auf die Kapuze des Schutzmannes, der ganz durchnäßt schien, aber sei es, daß dieser das Licht der Dunkelheit vorzog, oder des Herumgehens müde war, er blieb an der Laterne stehen, die ihm vielleicht in der einsamen Nacht ein Freund und Gefährte war.
Die zitternde Flamme war seine einzige Unterhaltung in den langen Stunden der Nachtwache.
Seine Unbeweglichkeit hatte etwas Übermenschlisches. Der Widerschein seiner Stiefel auf dem nassen Trottoir, das wie ein See aussah, verlängerte ihn nach unten und gab ihm das Aussehen eines amphibischen Ungeheuers, das halb aus den Wassern ragte.
In der Nähe mit seiner Kapuze und den Waffen konnte man ihn für einen Mönch oder für einen Soldaten halten.
Die groben Gesichtszüge, die durch den Schatten der Kapuze noch vergrößert wurden, hatten etwas Friedliches und Trauriges.