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Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole FranceЧитать онлайн книгу.

Gesammelte Erzählungen von Anatole France - Anatole France


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liebe Tochter. Erfahre also, daß Putois in reifem Alter geboren ward. Ich war damals noch ein Kind, deine Tante war schon ein junges Mädchen. Wir bewohnten ein kleines Haus in einer Vorstadt von St. Omer. Unsere Eltern führten ein ruhiges, zurückgezogenes Leben, bis sie von einer Eingeborenen von St. Omer, von einer alten Dame mit Namen Frau Cornouiller entdeckt wurden, die in der Nähe der Stadt auf ihrem Landsitze Monplaisir wohnte und ausfindig gemacht hatte, daß sie die Großtante meiner Mutter sei. Sie machte nun von ihrem verwandtschaftlichen Recht Gebrauch und verlangte, daß unsere Eltern jeden Sonntag zum Mittagessen nach Monplaisir kommen sollten, wo sie sich sträflich langweilten. Sie sagte, es sei wohlanständig, am Sonntag in der Familie zu dinieren, nur Leute ohne Stand und Rang hielten nicht auf diese gute Sitte. Mein Vater weinte fast vor Ärger und Langeweile in Monplaisir. Es tat einem weh, seine Verzweiflung mitanzusehen. Aber Frau Cornouiller bemerkte das nicht. Sie sah überhaupt nichts. Meine Mutter schickte sich mit mehr Anstand in die Sache. Sie litt ebenso sehr wie unser Vater, vielleicht noch mehr, aber sie lächelte.«

      »Die Frauen sind zum Leiden geboren,« sagte Zoë.

      »Zoë, alles was auf der Welt lebt, ist zum Leiden bestimmt. Vergebens lehnten unsere Eltern diese entsetzlichen Einladungen ab. Der Wagen der Frau Cornouiller stand jeden Sonntag mit unerbittlicher Pünktlichkeit vor ihrer Tür, um sie abzuholen. Es half nichts, man mußte nach Monplaisir fahren, das war eine Pflicht, der man sich absolut nicht entziehen konnte. Es war einmal die festgesetzte Ordnung, die nur durch einen Gewaltstreich durchbrochen werden konnte. Endlich empörte sich mein Vater und schwur, daß er niemals wieder der Einladung der Frau Cornouiller Folge leisten werde. Er überließ es meiner Mutter, einen passenden Vorwand und allerlei Gründe für die Ablehnung ausfindig zu machen. Aber gerade dazu war sie am wenigsten imstande. Sie verstand es ganz und gar nicht, sich zu verstellen.«

      »Sage lieber, sie wollte es nicht verstehen, Lucien. Sie hätte ebenso gut lügen können, wie alle anderen Menschen.«

      »Sicherlich. Aber wenn sie gute Gründe hatte, so ließ sie die lieber gelten, als daß sie schlechte erfunden hätte. Du erinnerst dich vielleicht noch, es passierte ihr eines Tages bei Tische, daß sie sagte, ›zum Glück hat Zoë Keuchhusten, nun brauchen wir lange Zeit nicht nach Monplaisir zu fahren‹.« »Ja, ganz richtig!« gab Zoë zu.

      »Du genasest, Zoë, und Frau Cornouiller kam eines Tages zu unserer Mutter und sagte: ›Meine Liebe, ich rechne darauf, daß Sie am Sonntag mit Ihrem Gatten zum Diner nach Monplaisir kommen‹. Vom Vater aber hatte die Mutter ganz ausdrücklichen Bescheid bekommen, die Einladung unter allen Umstanden abzulehnen, und in dieser Notlage erfand sie einen Grund, der der Wahrheit nicht entsprach.

      ›Ich bedauere lebhaft, gnädige Frau,‹ sagte unsere Mutter, aber es wird uns unmöglich sein, denn Sonntag erwarte ich den Gärtner.‹

      »Frau Cornouiller sah durch die Glastür des Wohnzimmers auf den kleinen verwilderten Garten, wo Spillbaum und Flieder ganz danach aussahen, als ob sie das Messer des Gärtners nie gekannt hatten und auch nie kennenlernen würden.

      ›Sie erwarten den Gärtner! wozu denn?‹

      ›Er soll im Garten arbeiten.‹

      »Unwillkürlich hatte meine Mutter bei ihren Worten ihre Augen auf das kleine Viereck voll Unkraut und halbverwilderter Pflanzen gerichtet, das sie soeben als Garten bezeichnet hatte, und sah mit Schrecken die Unwahrscheinlichkeit ihrer Erfindung ein.

      ›Der Mensch‹, sagte Frau Cornouiller, ›könnte wohl am Montag oder Dienstag kommen, um Ihren … Garten zu pflegen. Das wäre auch viel besser. Am Sonntag soll man nicht arbeiten.‹

      ›Er ist aber in der Woche beschäftigt.‹

      »Ich habe oft bemerkt, daß die absurdesten, ungeeignetsten Gründe den wenigsten Widerstand finden. Sie verwirren im Gegenteil den Gegner. Frau Cornouiller bestand denn auch weniger hartnäckig auf ihrer Meinung, als man es bei einer so wenig nachgiebigen Person erwartet hätte. Als sie sich von ihrem Sitz erhob, fragte sie:

      ›Wie heißt Ihr Gärtner, meine Liebe?‹

      ›Putois,‹ erwiderte unsere Mutter ohne Zögern.

      »So hatte denn Putois seinen Namen. Seitdem existierte er. Beim Fortgehn sagte Frau Cornouiller vor sich hin:

      ›Putois, Putois, das kommt mir bekannt vor. Ich kenne ihn wohl, aber ich erinnere mich nicht recht. … Wo wohnt er denn?‹

      ›Er geht auf Tagesarbeit aus; wenn man ihn braucht, so läßt man es ihm bei dem einen oder dem anderen sagen.‹

      ›Das dachte ich mir wohl, ein Herumtreiber, ein Vagabund, ein richtiger Nichtsnutz. Nehmen Sie sich vor ihm in acht, meine Liebe!‹

      »Von nun an hatte Putois einen Charakter.«

      II.

      Inzwischen waren die Herren Goubin und Marteau gekommen. Herr Bergeret machte sie mit dem Gegenstand der Unterhaltung bekannt.

      »Wir sprachen gerade von jemand, den meine Mutter eines schönen Tages zum Gärtner in St. Omer machte und ihm einen Namen gab.

      »Seit der Zeit begann auch seine Wirksamkeit.«

      »Bitte noch einmal, verehrter Meister,« sagte Herr Goubin, und wischte sein Augenglas. »Gern,« erwiderte Herr Bergeret. »Es gab einen Gärtner in St. Omer. Der Gärtner existierte nicht, aber meine Mutter sagte: ›Ich erwarte den Gärtner‹. Alsbald gab es einen Gärtner, der auch zugleich zu einer handelnden Person wurde.«

      »Teurer Meister,« fragte Herr Goubin, »wie konnte er handeln, da er ja gar nicht existierte?«

      »Er besaß eben doch eine Art von Existenz,« erwiderte Herr Bergeret.

      »Sie wollen sagen, eine imaginäre Existenz,« sagte Herr Goubin verächtlich.

      »Ist denn eine imaginäre Existenz nichts?«, rief der Meister. »Sind nicht die mythischen Personen von großem Einstuß auf die Menschheit gewesen? Denken Sie doch an die Mythologie, Herr Goubin, und Sie werden erkennen, daß es zwar nicht wirkliche Wesen, sondern imaginäre Wesen waren, die aber den größten Einfluß auf die Seelen gehabt haben. Wesen, die überall und zu allen Zeiten nicht mehr Wirklichkeit besaßen als Putois, haben den Völkern Haß und Liebe, Schrecken und Hoffnung eingeflößt, haben ihnen Verbrechen angeraten, Opfer empfangen, Sitten und Gesetze geschaffen. Denken Sie über die ewig dauernde Mythologie nach, Herr Goubin. Putois ist eine mythische Persönlichkeit und, wie ich zugeben muß, eine von der obskursten und niedrigsten Art. Der plumpe Satyr, der einst am Tische unserer Bauern im Norden saß, wurde für würdig erachtet, in einem Gemälde von Jordans und in einer Fabel von Lafontaine zu figurieren. Der behaarte Sohn des Syorax ist in die erhabene Welt eines Shakespeare hineingelangt. Putois ist weniger glücklich gewesen und wird stets von den Künstlern und Dichtern mißachtet werden. Es fehlt ihm an Größe und Fremdartigkeit, an Stil und Charakter. Er kam unter zu vernünftigen Leuten zur Welt, unter Leuten, die lesen und schreiben konnten und nicht die reizende Einbildungskraft besaßen, die zur Fabelbildung führt. Ich denke, meine Herren, was ich gesagt habe, wird ausreichen, um Ihnen die wahre Natur von Putois begreiflich zu machen.«

      »Ich verstehe Sie wohl,« sagte Herr Goubin. »Putois wurde in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geboren in St. Omer,« fuhr Herr Bergeret fort. »Besser für ihn wäre es gewesen, wenn er einige Jahrhunderte früher im Ardennerwald zur Welt gekommen wäre. Denn dann wäre er ein böser Geist von außerordentlicher Geschicklichkeit geworden.«

      »Eine Tasse Tee gefällig?«, fragte Pauline.

      »Putois war also ein böser Geist?« erkundigte sich Herr Marteau.

      »Er war böse,« erwiderte Herr Bergeret, »aber er war es nur in gewisser Weise. Es war mit ihm wie mit den Teufeln, von denen man sagt, daß sie böse seien, an denen man aber bei näherem Umgang doch gute Seiten entdeckt. Ich bin geneigt zu glauben, daß man Putois sehr Unrecht getan hat. Frau Cornouiller hatte ein Vorurteil gegen ihn gefaßt und hegte sofort den Verdacht, er sei ein Taugenichts, ein Trunkenbold und


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