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Coffin Corner. Amel KarboulЧитать онлайн книгу.

Coffin Corner - Amel Karboul


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dass das Flugzeug einen Tick zu hoch fliegt, die Strömung abreißt und das Flugzeug abstürzt. Da die Geschwindigkeit beim Absturz dann noch zunimmt, kann der Pilot die Maschine nicht mehr abfangen. Sie zerbricht in so einem Fall meistens noch in der Luft.

      Der Pilot in der Coffin Corner kann darum weder beschleunigen noch Kurven fliegen – denn das würde abbremsen –, ohne das Flugzeug, seine Passagiere und sich selbst extrem zu gefährden. Die Flexibilität, die Fähigkeit zu agieren oder zu reagieren, ist in dieser Zone maximal eingeschränkt.

      Maximale Effizienz bedeutet höchste Gefahr. Das ist die Logik, die Ihnen niemand beigebracht hat! Das ist die Logik, die Sie neu lernen müssen!

      Die Arbeitsabläufe in einem Unternehmen immer mehr zu optimieren ist, ähnelt der Situation eines Piloten, der sein Flugzeug in der Coffin Corner fliegt – und es noch weiter an die absolute Grenze heranführt. So lange das Flugzeug noch fliegt, ist das höchst profitabel. Deshalb denken die CEOs: Es läuft blendend, das Unternehmen ist sicher. Aber die Handlungsoptionen eines Geschäftsführers in einem optimierten Unternehmen sind überaus eng. Je mehr er sich auf Effizienz ausrichtet, desto weniger Freiraum bleibt ihm, auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. Irgendwann wird sein Unternehmen abstürzen. Dazu genügt manchmal das Auftreten einer nur leichten Turbulenz.

      So war es bei dem Air-France-Flug 447. Am 1. Juni 2009 sah ich es in den Nachrichten und war schockiert: Das Linienflugzeug, das am 31. Mai spätabends in Rio de Janeiro mit Ziel Paris gestartet war, wurde vermisst. Höchstwahrscheinlich war es abgestürzt – mit 228 Menschen an Bord.

      Am Tag darauf wurden erste Trümmerteile im Atlantik treibend entdeckt. In den nächsten Tagen und Wochen verfolgte ich die Suche nach dem restlichen Wrack und nach den Überresten der Insassen. Ebenso verzweifelt wie die Suche nach den im Meer versunkenen Menschen, war die Suche nach dem Grund des Unglücks. Das Flugzeug, ein Airbus A330-200, war frisch gewartet und technisch auf dem neuesten Stand gewesen. Die drei Piloten waren gut ausgebildet, erfahren, ausgeruht und gesund. Warum um alles in der Welt war dieses Flugzeug abgestürzt?

      Erst knapp zwei Jahre später konnten das Speichermodul des Flugschreibers und der Stimmrekorder aus 4000 Meter Meerestiefe geborgen werden. Die Auswertung machte klar: Das Flugzeug war in der Coffin Corner geflogen. Hier durfte auf keinen Fall etwas Unerwartetes passieren. Aber es geschah: Das Höhenmessgerät vereiste und der Autopilot fiel aus. Zu diesem Zeitpunkt war gerade der Kapitän in Pause, der Kopilot Bonin steuerte.

       Marc Duboir, 58, Flugkapitän

       David Robert, 37, Kopilot

       Pierre Cedric Bonin, 32, Kopilot

       Bonin: »Putain! Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug, ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug!«

       Robert: »Die Steuerung nach links!«

       Duboir: »Eh, was macht ihr da?«

       Bonin: »Wir verlieren die Kontrolle über das Flugzeug!«

       Robert: »Wir haben komplett die Kontrolle über das Flugzeug verloren. Ich verstehe das nicht … wir haben alles versucht … Was glaubst du? Was glaubst du? Was müssen wir tun?«

       Duboir: »Nun, ich weiß es nicht!«

       Robert: »Zieh hoch … zieh hoch … zieh hoch … zieh hoch …«

       Bonin: »Aber ich ziehe doch die ganze Zeit über voll hoch!«

       Duboir: »Nein, nein, nein … zieh nicht hoch … nein, nein.«

       Robert: »Dann geh in den Sinkflug … Also, gib mir die Steuerung … Die Steuerung an mich! Putain, wir werden aufschlagen … Merde! Das ist nicht wahr!«

       Bonin: »Aber was passiert hier?«

       Duboir: »Längsneigung 10 Grad …«

      Ende.

       Zwischen den Welten

      Es klingt abstrus: Unternehmen streben höchstmögliche Sicherheit an, und genau dadurch landen sie am gefährlichsten Ort: in der Coffin Corner. Wie kann das sein?

      Meiner Erfahrung nach handelt es sich um eine besondere Form von Betriebsblindheit. Viele Unternehmen rennen ins Unheil, weil sie Scheuklappen tragen, die ihnen den Blink nach links und rechts versperren. Und zu allem Unglück wissen sie nicht einmal, dass ihr Blickfeld verengt ist! Sie folgen ganz selbstverständlich einem Denkmodell, das ihnen Sicherheit verspricht, sie aber gefährlich nahe an den Absturz bringt. Ihren Handlungsspielraum könnten sie nur erweitern, wenn sie sich darüber bewusst werden, dass es noch ganz andere Perspektiven gibt, aus denen sie das Problem betrachten können.

      Um das zu verstehen, müssen Sie sich etwas Grundlegendes bewusst machen: Unternehmen handeln niemals im luftleeren Raum, sondern innerhalb eines kulturell geprägten Rahmens. Wie ein Unternehmen handelt, wie es Erfolg definiert, welche Entscheidungen es trifft und wie es auf Probleme reagiert – das alles hängt von den Einstellungen und inneren Überzeugungen seiner Führungskräfte und Mitarbeiter ab – von Menschen also. Menschen aber sind von den jeweiligen Glaubens- und Denksystemen geprägt, in denen sie sozialisiert wurden und in denen sie sich bewegen. Unterschätzen Sie nicht die Auswirkungen dieser kulturellen Prägung!

      Dass ich in Tunesien geboren und aufgewachsen bin, hat mein gesamtes Denken sehr geprägt. Wie sehr, kann ich Ihnen am besten zeigen, wenn ich Sie mitnehme nach Tunis, in das Jahr 1987.

      Es war der 6. November. Wir saßen beim Abendessen in der Küche, mein Vater aß einen Granatapfel. Normalerweise vollzog er das allherbstliche Ritual mit Bedacht, brach die Frucht vorsichtig auseinander und löste die saftig roten Kerne geschickt heraus, ohne sie zu verletzen. An diesem Abend war etwas anders. Seine Hände zitterten, seine schlanken Finger bewegten sich fahrig. Mit Gewalt grub er die Kerne aus der Frucht und schaufelte sie hastig in seinen Mund. Der Saft lief über seine Finger und tropfte auf den Tisch. Er bemerkte es nicht. Auch nicht, als ich ihm einen Lappen holte, um den Saft aufzuwischen.

      Meine Mutter beobachtete ihn besorgt. So wie ich auch. Mein Vater schwieg. Von draußen drang der Verkehrslärm herein, Musik aus einem Café, Hundebellen, Gesprächsfetzen von Passanten. In unserer Küche war das Gespräch verstummt. Wie konnte ich von der Schule erzählen, wie konnte meine Schwester vom Nachmittag mit ihren Freunden erzählen, während mein Vater so abwesend und voller Anspannung am Tisch saß? Ich stellte die Teller vom Tisch zusammen und trug sie ihn die Küche. Mein Vater nickte mir zu und verließ das Haus. Als ich mit Aufräumen längst fertig war, war er immer noch nicht zurück.

      Mein Vater blieb die ganze Nacht verschwunden. Ich konnte nicht schlafen. Das ganze Haus war unruhig, das Licht meiner Nachttischlampe summte. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein. Als ich aufstand, um nach meiner Mutter zu sehen, entdeckte ich sie am Küchenfenster. Sie knetete ihre Hände und blickte hinaus. Im Flur fehlten die Schuhe meines Vaters. Immer noch. Ich wusste, dass es nichts gab, was ich tun konnte, und kroch mit bleiernem Gefühl wieder ins Bett zurück.

      Erst später erfuhr ich, was in jener Nacht passiert war: Die Regierung wurde komplett entmachtet; ein Putsch, erstaunlicherweise ohne Blutvergießen. Der 84-jährige autoritäre Präsident Habib Bourguiba wurde abgesetzt und Ben Ali kam als neuer Präsident an die Macht. Mein Vater war damals Chef der Polizei und maßgeblich an der Aktion beteiligt. Das alles ist passiert, während wir auf ihn warteten und keine Ahnung hatten, was da gerade vor sich geht.

      Vielleicht überrascht Sie das, aber ich habe dieses Ereignis nie hinterfragt. Hat mein Vater sein Leben riskiert? Hat er uns, seine Familie in Gefahr gebracht? Hat er für das Land das Richtige getan? Das alles ist nicht so wichtig. Es ist passiert. Ich war vierzehn und damit noch ein wenig zu jung, um wirklich zu verstehen, was passierte.


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