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Coffin Corner. Amel KarboulЧитать онлайн книгу.

Coffin Corner - Amel Karboul


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hat sich mir tief eingeprägt: Es gibt Ereignisse, auf die ich einfach keinen Einfluss habe. Also bringt es auch nichts zu versuchen, mit Fragen und Bewertungen eine Art von Scheinkontrolle darüber zu gewinnen. Schon gar nicht im Nachhinein.

      Selbst als Erwachsene habe ich meinen Vater nicht danach gefragt, wo genau er in jener Nacht war, ob er Angst hatte, und was passiert wäre, wenn der Plan schiefgegangen wäre. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der so etwas wie ein Putsch vorkommen konnte.

      In einer Welt, in der nichts stabil ist, in der man abhängig ist von der Gunst oder Missgunst des Schicksals.

      Eine Welt, in der jede Angelegenheit so oder so oder noch ganz anders ausgehen kann – man wird sehen.

      Eine Welt, in der Intuition und die Entscheidung eines Augenblicks manchmal wichtiger sind, als alles kontrollieren zu können.

      Eine Welt wie die, zu der Ihre alte Welt heute geworden ist!

      Meiner Erfahrung nach gibt es zwei grundverschiedene Haltungen, um mit Unsicherheit umzugehen. Die erste ist diejenige, die viele Unternehmen in den Industrienationen jahrzehntelang extrem erfolgreich gemacht hat – und die sie jetzt in Gefahr bringt.

      Es ist das lineare Denken: Ich setze mir ein Ziel und lege, möglichst detailliert, die einzelnen Schritte hin zu diesem Ziel fest. Mit sorgfältigsten Vorbereitungen versuche ich, jedes Hindernis im Voraus zu beseitigen. Meinen Plan setze ich dann möglichst genau um und kontrolliere bei jedem Schritt, ob ich noch »auf Spur« bin.

      Diese Denkweise erinnert mich an eine Eisenbahnlinie: Auf der kürzesten und hindernisfreisten Strecke führt sie von A nach B. Stahlschienen sorgen dafür, dass die Reise auf dieser Strecke absolut glatt läuft – und dass keine Abweichung nach links oder rechts möglich ist. Der Fahrplan wird schon lange im Voraus minutengenau festgelegt. Es gibt nur ein Ziel, nur eine Strecke dorthin, sorgfältige Vorbereitung, praktisch null Abweichung. Deswegen nenne ich diese Art zu denken: Railway-Denken.

      Entstanden ist das Railway-Denken in Europa und den europäisch geprägten Ländern – Nordamerika, Japan und Südkorea, also was man im Allgemeinen »westliche« Staaten nennt, obwohl sie über den ganzen Globus verteilt sind. Natürlich sind in diesen Regionen nicht alle Menschen gleichermaßen geprägt. Außerdem ist das Railway-Denken schon lange nicht mehr auf »den Westen« beschränkt. Überall auf der Welt haben Menschen es sich angeeignet. Vor allem Manager, die an einer der großen Business-Schools gelernt haben, neigen zum Railway-Denken – egal ob sie aus Sri Lanka, Burkina Faso oder aus der Schweiz stammen.

      Trotzdem habe ich den Eindruck, dass diese Denkweise in den europäisch geprägten Ländern besonders weit verbreitet ist. Mein Paradebeispiel für Railway-Denken ist Deutschland: Alles dreht sich hier um die Idee der Kontrolle. Dass man den Unwägbarkeiten des Lebens ausgeliefert sein könnte, ist für die meisten Deutschen ein schier unerträglicher Gedanke. Reisende der Deutschen Bahn werden hektisch, wenn der ICE zehn Minuten Verspätung hat – nur um dann in totale Panik auszubrechen, wenn kein Zugbegleiter zur Hand ist, der Auskunft geben kann, ob der Anschluss erreicht wird. Bloß nicht mit dieser Ungewissheit dasitzen! Das zu beobachten verwundert mich immer wieder. Ebenso staune ich über immer wieder beim Thema Wetter. Die Tagesschau setzt ihre Wettervorhersage als dramaturgischen Schluss- und Höhepunkt ans Ende der Sendung! Dabei führt sie ein ganzes Arsenal an animierten Schaubildern und Grafiken vor, die dem Zuschauer das Gefühl geben, möglichst genau Bescheid zu wissen. Du fühlst dich für alle Situationen gewappnet und nimmst, na klar, den Regenschirm mit, wenn schlechtes Wetter angesagt ist. Offenbar haben die Zuschauer das gute Gefühl, sie hätten die Kontrolle, wenn sie die Vorschau gesehen haben. So wichtig dieses Gefühl der Kontrolle offenbar ist, so trügerisch bleibt es, denn es ist ein Gefühl, nicht die Realität des Zusammenspiels aller Fakten.

      Für das Railway-Denken ist Kontrolle nicht nur ein absolut notwendiges Alltagsprinzip, sondern auch ein unermesslich wichtiger Maßstab für den Erfolg einer Person. Du hast alles im Griff – gut gemacht! Du wirst von einem unerwarteten Ereignis überrascht – was für eine Schande! Ebenso werden Unternehmen bewertet: Ein Konkurrent bringt das eigene Produkt schneller auf den Markt als man selbst – wie peinlich! Ein Lieferengpass bringt den kompletten Zeitplan einer Produktionslinie durcheinander? Das hätte man doch voraussehen und rechtzeitig reagieren müssen!

      Diese Denkweise zwingt Unternehmen dazu, ihre Produkte, ihre Herstellungsprozesse und ihre Wertschöpfungsketten immer weiter zu optimieren: Schneller! Billiger! Kundenorientierter! Um das Gefühl zu haben, alles im Griff zu haben, wird sehr viel Zeit und Geld investiert: Daten sammeln, Statistiken auswerten, Regelung treffen, Normen definieren (kein Wunder übrigens, dass die Industrienorm eine deutsche Erfindung ist) – das alles soll dafür sorgen, dass die Dinge in geordneten Bahnen laufen und dass unerwartete Situationen niemals eintreffen. Falls sie doch eintreffen, dann hat man dafür schon einen Regenschirm – pardon – einen Plan B in der Hinterhand.

      Du fixierst dich auf die Idee, alles kontrollieren zu können – obwohl es tatsächlich nicht so ist. Du verlässt dich auf die Aussagekraft von Graphen und Tabellen und vergisst dabei, dass sie lediglich ein Konstrukt sind. Ein Bild von der Realität, zwar unterfüttert mit Zahlen, aber dennoch nichts weiter als ein Bild. Du vergisst, dass dieses Bild ein Hilfsmittel ist, um der Realität nahe zu kommen – nicht die Realität selbst.

      Denn die Realität ist letztlich unberechenbar, ganz besonders im hochtechnisierten und hochvernetzten 21. Jahrhundert.

       Umdenken!

      Für mich besonders bezeichnend war der Börsencrash vom 6. Mai 2010. Mitten am Nachmittag stürzten an der New York Stock Exchange plötzlich die Aktienkurse ein, und zwar dramatisch. Der Dow-Jones-Index gab um knapp 1.000 Punkte nach – einen Kurssturz dieser Art hatte es in der Geschichte der Wall Street nie zuvor gegeben. Die Aktien des Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble fielen von 62 auf 39 Dollar; das ist ein Verlust von mehr als einem Drittel. Der US-amerikanische Energieversorger Exelon verlor zeitweise 99 Prozent. Nach zwanzig Minuten war der Spuk vorbei, so schnell wie die Aktienwerte gefallen waren, erholten sie sich auch wieder – aber niemand wusste, warum.

      Die Nachrichtenbilder zeigten die Gesichter der Händler, an ihnen konnte man die gesamte Gefühlspalette ablesen, die sie in jenen Minuten durchlebten. Schock und Entsetzen. Der Versuch zu reagieren, hektisches Telefonieren. Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts der Tatsache, dass niemand so recht wusste, was gerade vor sich ging. »Es hat sich angefühlt, als hätten wir die Kontrolle verloren«, sagte Jack Ablin, CIO der Harris Private Bank, in einem Interview. Als ich das las, dachte ich mir: Welche Kontrolle? Ihr spielt ein riskantes, komplexes und chaotisches Spiel – und glaubt dennoch, dass ihr dieses Spiel kontrollieren könnt?

      In solchen Momenten steht mir die andere Denkweise viel näher. Die Denkweise, die in Vielem das Gegenteil ist von Railway-Denken. Ich nenne sie Granatapfel-Denken. So wie ein Granatapfel viele Kerne hat, die ohne Kerngehäuse gleichberechtigt nebeneinander liegen, kennt diese Denkweise viele Möglichkeiten, viele Realitäten, viele Perspektiven, viele Wege. Ja, meistens gibt es sogar mehrere Wege, mehrere Startpunkte, mehrere Ziele. Und jeder dieser Wege, jedes der Ziele ist auf seine Art lohnend, verlockend wie der süße aromatische Saft des Granatapfels. Zwischen diesen Wegen entscheidet man sich ganz spontan, ungeplant, und erst, wenn die Möglichkeiten offen vor einem liegen. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als Railway-Denken. Hier gibt es kein Optimum mehr und darum auch keine höchste Effizienz. Aber dafür ist mehr Raum für ein »Vielleicht«, für ein »Ich glaube schon«, für ein »Ich weiß es nicht« oder ein »Probieren wir es einfach mal aus«.

      Widersprüche sind existent. Sie sind überall. Sie sind nicht auszulöschen. Sie gehören zum Leben. Unsicherheiten und Unwägbarkeiten sind kein Problem, solange ein Spielraum zum Reagieren bleibt. Um diesen Spielraum geht es. Wenn nicht in jeder Situation der Überblick klar erkennbar ist, ist das kein Grund zur Scham. Im Gegenteil. Denn in der Wirklichkeit ist mit genau diesen beiden Eigenschaften zu rechnen: was passiert, kann unlogisch und widersprüchlich sein. Dazu kommt ein dritter Punkt: Nicht immer ist etwas nur schwarz oder weiß oder blau oder rot, sondern häufig oder sogar meistens


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