Pepi, lass mi eine ...!. Peter ElstnerЧитать онлайн книгу.
Wien. Er hatte dem Brief an meine Mutter noch eine Kinokarte beigefügt, so als würde er sagen wollen: »Reg dich nicht auf – es ist ohnehin alles normal!«
Aber nichts war in den Schlusstagen des Zweiten Weltkrieges »normal«. Wie wir später erfuhren – da war Mama einige Male mit einem Foto von Papa zu Heimkehrerzügen auf den Südbahnhof gefahren, doch niemand erkannte ihn –, hatten böhmische Partisanen alles, was deutsche Uniform trug, niedergemetzelt. Mama hat immer vermutet, dass Papa auch unter diesen Soldaten war … so kurz vor Wien …
Was ich auch noch vor mir sehe – zwei meiner Lieblingsplätze in unserer Zimmer-Küche-Wohnung, Wasser nicht am Gang, Klo innen, Lavoir zum Waschen auf einem Wasch-Stockerl in der Küche neben der Wasserleitung:
Lieblingsplatz 1:
Unter dem Esstisch mitten im Zimmer. Links davon eine Bettbank, gleich neben der Tür ein breites Bett, zwei Kleiderkasten rechts, eine Psyche (so was wie ein Schminktischerl) mit rechteckigem, geschliffenem Spiegel, ein kleiner Schreibtisch vor dem Fenster, das hinaus auf die Siebenbrunnenfeldgasse führt; eine mit Brettern vernagelte Verbindungstür zur danebenliegenden Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung meiner Großmutter mütterlicherseits.
Zurück zum Esstisch: Der hatte eine kreuzartige Verstrebung, knapp über dem Boden – da saß ich drauf und spielte mit meiner geliebten bunten Holz-Lilliputbahn, die mir Mama geschenkt hatte, oder blätterte in Bilderbüchern. Da, unter der Tischplatte, war in meinem Kopf alles vorhanden, da konnte ich, verborgen von den Blicken der Erwachsenen, meinen Fantasien freien Lauf lassen: Einmal war dieser Platz auf dem Kreuzbein eine Höhle, ein Indianerzelt, der Triebwagen der Straßenbahn … tsch...tsch...tsch..., natürlich die Eisenbahn und »brumm-brumm« das dumpfe, drohende Geräusch der Bombenflugzeuge über Wien – das war ebenso in meinem Kopf.
Lieblingsplatz 2:
Auf dem Fensterbrett. Das ist sehr breit, weil da drunter ein Rollbalken ist, den das Fensterbrett abschirmt – darunter ein Fahrrad-Souterraingeschäft – der Besitzer heißt Füssl.
Meine Aussichtsterrasse auf die Siebenbrunnenfeldgasse. Ich kann stundenlang da liegen und das karge Leben während des Krieges beobachten. Die Nachbarn, die einkaufen gehen, einige Radfahrer, einmal vielleicht in drei, vier Stunden ein Auto. Gegenüber unserer Wohnung ein Pferdemarkt und die freie Fläche des Heumarktes am Matzleinsdorfer Platz.
Rechts neben unserem Häuserblock, das frühere Arbeitsamt. (Später einmal die Kaserne der englischen Besatzungsarmee. Wenn die exerzierten und die Sergeants ihre Kommandos brüllten, hing die ganze Gasse an den Fenstern …)
Und dann ein Bild, das ich nie vergessen kann – es ist abends, Dämmerung, die Siebenbrunnenfeldgasse graue Einsamkeit.
Mama kommt langsam die Gasse runter, ganz langsam, Kopf tief gesenkt (in diesen hängenden, mit kleinem Blumenmuster versehenen Hemdkragen-Kleidern der Kriegszeit). Sie blickt hinauf zu mir, der ich da auf dem Fensterbrett liege und auf meine Mutti warte.
»Vilma ist gestorben«, stöhnt sie zu mir ins Parterre hinauf. Ich kann das nicht fassen, versteh auch nicht den Schmerz, den eine Mutter haben muss, aber ich spüre die Verzweiflung von Mama: Meine Schwester lebt nicht mehr!
Nur sechs Monate gelebt – gestorben an Diphterie – es gibt kein Penicillin … Vilma erstickt, trotz eines Schnittes im Hals … (das erste weibliche Wesen, das aus meinem engeren Umfeld stirbt).
»Scheiß-Krieg«, sagt meine Mutti.
Auf dem Topf
A propos … a propos
Ich hab doch noch einen Lieblingsplatz … den Topf …
Wenn meine Mutter Ruhe haben wollte, weil sie irgendeine Arbeit hatte, gab sie mir immer einen Bilder-Duden zum – vorerst Anschaun, ich konnte ja noch nicht lesen.
Diesen Bilder-Duden nahm ich überall mit, egal wo ich gerade in der Wohnung war – und schließlich kam ich drauf, dass ich am meisten Ruhe auf dem Abort hatte – auf dem Topf …
Und so hat Mama eigentlich dafür gesorgt, dass ich mir mit dem Bilder-Duden einen großen Teil meiner sogenannten Allgemeinbildung auf dem Topf erworben habe – mit des Dudens Hilfe hab ich sogar noch vor der Schule lesen gelernt.
Da sage man noch etwas gegen solche Improvisationen.
Die Gewürzhändler
Die Geschichte der Familie liest sich eigentlich wie ein Gesellschaftsroman um die Jahrhundertwende:
Mamas Eltern: Gewürzhändler-Familie Milik (wie der Name schon sagt, aus Böhmen, gleiches Entstehen, gleiches Wachsen wie die Firma Maggi, begütert), Oma Karoline wird Witwe, weil der alte Milik stirbt. Oma heiratet noch einmal, einen Kaufmann namens Gross – der verwirtschaftet alles. Oma schauderte, wenn sie erzählte, wie Gross mit dem von Milik erwirtschafteten Geld herumschmiss: »Er hat Hunderterscheine zu Weihnachten rund ums Brot gelegt, er wollt zeigen, wie gut es uns geht.« Dabei rann alles, auch bedingt durch die Wirren der Zwischenkriegszeit, den Bach hinunter. »Von einem ganzen Häuserblock«, so Oma, »ist nur meine Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung und eure Zimmer-Küche-Wohnung übrig geblieben. Wir verarmten ganz, ganz rasch. Und den alten Gross hat dann der Schlag getroffen.« Omi musste mit einer kargen Rente auskommen, und Mama musste nebenbei nähen und schneidern gehen, um alle erhalten zu können.
Die Miliks (Karoline und Franz) hatten zwei Kinder: Franz, meinen Onkel, und Karoline, meine Mama – sie heiratet Franz Müller (Postbeamter, Chef der Posttechnik in Mariahilf nahe der Stumpergasse) und wird dann geschieden, vor dem Krieg, als Müller die Tochter der reichen Pelzhändler Foggensteiner kennenlernt und dann auch heiratet. Dennoch hielt er immer Kontakt zu Mama, auch wenn diese inzwischen Friedrich Elstner geheiratet hatte.
Die Elstner-Familie: Deutsche (Sachsen)/Tirol. Meine Großeltern väterlicherseits betrieben in der Tautenhayngasse im 15. Bezirk eine Näherei für Großfirmen (Kaufhaus Gerngross, Kaufhaus Stafa etc.)
Fleischlaberln hamstern
Bemerkenswerte Erlebnisse laufen noch immer ab, bildhaft wie ein Film: Papa und Mama streiten bei Papas Fronturlaub, wer ein Fleischlaberl bekommt.
Als Papa zu einem der seltenen Fronturlaube kommt, will Mama ihren Mann ein bisschen verwöhnen, mit gutem Essen. Sie nimmt wieder einmal Schmuck aus besseren Tagen, und wir fahren aufs Land, in die Umgebung von Wien, mit der Straßenbahn und mit dem Zug, um zu »hamstern« – also Pretiosen gegen Schmalz, Butter, Eier, Gemüse und ein wenig Fleisch tauschen. Viele Bauern haben sich in dieser Zeit »g’sundg’stessn«, wie Oma immer wieder bemerkte.
Bei uns gibt’s nach der Hamsterfahrt »Fleischlaberln« mit Erdäpfelpüree und grünem Salat – aber es gehen sich nur zwei Stück Faschiertes aus, und da erlebte ich Folgendes:
Ein Fleischlaberl bekomm ich (»Du bist eh unterernährt.«), das andere legt Mama ihrem Mann auf den Teller (»Du kriegst an der Front eh nix Gutes!«).
Er: »Und was isst du? Nein, das wirst du jetzt essen! Ich bekomm eh regelmäßig bei der Wehrmacht.« Fleischlaberl wandert auf Mamas Teller.
Mama darauf: »Nein, du musst was essen!« Fleischlaberl wandert zurück.
Papa: »Nein – du iss das jetzt!« Fleischlaberl retour.
Mama: »Nein, du – i hab eh nach dem Kochen keinen Hunger mehr.« Fleischlaberl wandert wieder zu Papa.
So geht das einige Male hin und her. Wer »gewonnen« hat, weiß ich nicht mehr, aber berührt hat mich diese Szene sehr. Noch heute »drückt’s mi«, wenn ich sie mir vor Augen halte.
Mit Papa unter Bomben
Papa und ich allein bei einem Bombenangriff mitten auf der Wiedner Hauptstraße.
Bei seinem letzten Fronturlaub 1944/45 möchte Papa in die Innere Stadt. »Ich will nur sehen,