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Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus MaederЧитать онлайн книгу.

Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer - Markus Maeder


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Leer sind wir weich wie Butter dem Horizont entgegengefedert. Es ist eher ein Summen als ein Brummen, eher wie das intensive, geschäftige Treiben der Bienen im Mai. Voll beladen, schlägt das Gewicht hart auf die Achsen, der Motor singt nicht, er knurrt und keucht die Hügel hinauf. Die Leeren schweben mit ihren 89 km/h links an uns vorbei, dafür haben wir mehr Zeit, uns der Betrachtung der toxischen Wäsche zu widmen. Nun kriegt sie auch von uns ihr schwarzes Teil ab.

      Wenn Sattelschlepper Elefanten wären, könnten sie brummen und schnurren wie Raubkatzen, und wenn sie Raubkatzen wären, fragt es sich, warum sie Pferdestärken haben. Metaphern haben immer etwas Schiefes an sich, aber so langsam unterwegs auf die nächste Hügelkuppe, schleppen sich manchmal merkwürdige Gedanken ebenso träge dahin. Als Michi anruft, haben wir die Steigung hinter uns, den Abend vor uns. Es gibt eine kurze, effiziente Durchsage zum Notwendigen, wie einst am Ops-Tisch: »Salut Michi. Wir sind zurück Richtung Mailand. Werden noch heute verzollen. Tschüss Michi.«

      Überraschungen vorbehalten. Kaum liegt die Poebene vor uns, verspricht eine Anzeigetafel quer über die Autostrada »2 km di coda«. »Coda« ist Stau. Nanu, wenns nichts Schlimmeres ist, kommen wir heute glimpflich davon. Von Stau weit und breit keine Anzeichen. Vorläufig. Auch das Navigerät zeigt nichts an. Ach, das ist doch vorbei. Diese Italiener. Die haben doch einfach die Tafel auszuschalten vergessen – bis wir doch auf eine stehende Kolonne auffahren. Mindestens drei Glimmstängel Waldluft lang. Stehen. Stehen. Stehen. Dann folgt eine Umleitung mitten durch die Reisfelder und Rapsfelder, die auf der Hinfahrt wie Kulisse ausgesehen haben. Die Landwirtschaft macht sich so breit, dass die Straße gerade noch knapp Raum für zwei Fahrzeuge lässt. Markus schaut auf die Uhr, aber gibt sich gelassen. Im nächsten Dorf winkt er einen Fußgänger über den Zebrastreifen. Es ist ein älterer Herr, der uns zuwinkt und sich höflich mit »Buona serata« bedankt. »Für einen Fußgänger warten, das tut hier sonst keiner«, sagt Markus. Warum sollten wir nicht. Es geht sowieso nicht voran. Markus ist in Gedanken versunken: »Lebensmittel sind gut«, sagt er halb zu sich, halb zu mir. »Sie sind nie giftig. Für Gefahrengüter sind manche Straßen gesperrt. Mit Gefahrengütern würden wir jetzt vollends stecken bleiben.«

      Wir schauen der Sonne beim Sinken und Rotwerden zu. Zurzeit kommen wir auch mit unseren Lebensmitteln nicht mehr weiter. Ich spüre, allmählich beginnt es sanft zu brodeln in Markus’ Brust. »In Holland ist das besser«, sagt er, »bei jeder Unfallmeldung rücken Sanität, Polizei und Abschleppdienst unverzüglich im Dreierpaket aus. Wahrscheinlich neun- von zehnmal umsonst. Dafür steckst du kaum je in einer »coda«. In Deutschland gehören zehn und zwanzig Kilometer Stau zum Alltag eines Chauffeurs. Und hier?« Er presst die Lippen zusammen. Wir werden sehen. Das GPS zeigt uns, wo wir stehen. Vierzehn Kilometer vor der nächsten Einfahrt in die Autostrada. Der Name, der bisher bloß eine Folge von Buchstaben war und wie Tarragona klingt, bekommt unversehens Bedeutung. Tortona. Stehen, rollen, stehen, rollen im Schritttempo. Dafür können wir nach dem Flieder in den Vorgärten greifen.

      Markus findet es zum Kotzen. Ob wir das Auto abstellen? Aber was du gefahren bist, bist du gefahren. Auf einem Ferienfährtchen kommt es auf ein paar Stunden nicht an. Da kannst du fahren, so lange du willst. Wir aber bleiben stehen, abends um zehn. Zack, ein Entscheid. Markus stellt den Motor ab. Schluss mit der Arschvibrationsmassage. Göttliche Ruhe. Bis zu den nächsten Metern durchs nächste Rapsfeld. Und ständig liegt eine andere Frage in der Luft: Wie lange wohl Walo der Diesel noch reicht? Das Navigerät schickt uns links auf eine Abkürzung. Höhe bis zwei Meter sechzig. Da kommt kein Vierzigtönner durch. Wir haben drei Meter siebenundachtzig.

      Fast eine Stunde später stehen wir vor einem Rotlicht, das die Kreuzung mit einem unbefahrenen Schottersträßchen regelt. Es schaltet in kurzen, gleichmäßigen Abständen von Rot auf Grün und von Grün auf Rot. Markus entlädt seine Spannung mit einem Schlag auf den Mercedes-Stern auf dem Lenkrad: »Ein Polizist würde reichen. Ein einziger Polizist, der dieses dumme Rotlicht ausschaltet – und wir wären demnächst in Chiasso.« Aber es ist nicht nur dieser eine fehlende Polizist. Noch ein Lichtsignal und noch eins und noch eins. Markus sagt: »Gopferteckel, jetzt reichts. Wenn wir jetzt noch in die Ruhepausenvorschrift reinlaufen, hats uns erwischt.«

      Dann ruft Walo an, grinsend: »Arschloch klingt so wunderschön auf Italienisch, nicht wahr?«

      So, und jetzt. Gewonnen. Als wir die Autostrada wieder erreichen, steht die Sonne noch wenige Zentimeter über dem schnurgeraden Horizont. Großes Aufatmen. Es könnte uns noch reichen zurück in die Schweiz. Markus hatte erst kurz nach neun daran gedacht, die Scheibe laufen zu lassen. Das kommt uns nun zustatten. Es wird knapp, wenn wir noch vor Ablauf der zulässigen Arbeitszeit über die Grenze kommen, aber es könnte reichen. Sechs Tage fahren sind pro Woche erlaubt. An vier Tagen während insgesamt neun Stunden, an zwei Tagen während insgesamt zehn Stunden. An wahlweise drei Tagen haben elf Stunden Ruhezeit zwischen Abfahrt und Ankunft zu liegen, an drei Tagen pro Woche reichen neun Stunden.

      Die Befreiung aus dem Blechkorsett des Staus motiviert uns, Beethovens Sechste in den CD-Schlitz zu schieben. David Zinmans Zürcher Tonhalle-Orchester klingt so frisch und scharf wie das Aftershave heute Morgen. So feiern wir die heiteren Gefühle bei der Ankunft in Tortona und das lustige Zusammensein der Landleute auf den Reisfeldern beidseits der Pannenstreifen. Auf der Hülle ist Beethoven zitiert: Die Szene am Bach haben die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum mitkomponiert. Gerade als nach Gewitter und Stau der Hirtengesang beginnt, ruft der Werkstattchef von Mercedes in Schlieren an. Nun sei klar, warum beim manuellen Schalten der Gang manchmal rausfalle. Es hapere bloß an einem elektronischen Teil, nicht größer als eine Zigarrenschachtel, sehr teuer, aber schnell montiert. Er habe sich im Werk in Deutschland erkundigt. Markus solle vorbeikommen, wenn er mal in der Nähe sei.

      Markus hängt ein und schüttelt den Kopf: »Nach über vier Jahren! Wieso haben die sich nicht schon früher schlaugemacht? Wie oft haben wir deswegen Tempo verloren und Diesel verschwendet, um wieder auf Touren zu kommen. Vor allem auf langen Steigungen irgendwo in den Ardennen oder den Pyrenäen.« Oft ist Markus deswegen in der Werkstatt gewesen, wo aufs Geratewohl und erfolglos dieses und jenes ersetzt wurde. Ein Telefon nach Wörth hätte ihm viel Ärger erspart. Der Servicevertrag verpflichtet Mercedes zur Übernahme sämtlicher Kosten.

      Ich gebe mich den frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm und Stau hin. Markus kommt noch nicht von Rotlichtern und »der Zigarrenschachtel« los: »Die Lässigkeit ist es, die mangelnde Neugier, die einen angurkt«, sagt er, »nur Bosheit gurkt einen noch mehr an.« Er hat ja recht. Vollkommen recht. Ein Polizist pro Rotlicht würde reichen. Die vierhundertsechzig Pferde in der Raubkatze des Elefanten schnurren wieder wie eh und je, als ginge sie das alles nichts an. Sie laufen ihre neunundachtzig, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht haben Motoren doch keine Seele.

      Markus sagt: »Ich möchte einfach noch über diese Grenze heute Abend. Das Puff morgen früh in Chiasso will ich mir partout nicht antun. Schon lange vor sechs Uhr stehen sie kreuz und quer.«

      Wie Walo wohl das Puff vermeiden will? Warum hat er die Q8-Tankstelle gleich am Hafenausgang ausgelassen? Nun wird ihm die Zeit fehlen, die er dort eingespart hätte. Er hat Stress, weil er auf der Autobahn eine Möglichkeit finden muss. Wenn er Pech hat, geht ihm der Diesel aus, oder er muss einen Zwischenhalt einschalten, um woanders etwas Reserve zu tanken. Auch Walo weiß doch, dass Unterlassungen sich rächen können.

      So ist das eben, und es beginnt schon morgens früh. Markus hat das mit der ersten Tankfüllung als Sattelschlepperfahrer gelernt. Man rasiert sich etwas zu lang, der Kaffee kommt zu heiß aus dem Automaten: Fünf dumme Minuten verplempert, und man steht eine halbe Stunde vor einem Autobahnkreuz. Der Frühverkehr kann innert Augenblicken von praktisch null auf Maximalstärke anschwellen. Lieber kommt man zehn Minuten zu früh und muss dann warten, bis die Schranke oder das Fabriktor aufgeht, als dass man sich wartend hinter zwei oder drei Klügere, Diszipliniertere einreihen muss.

      Über der Poebene schwebt eine Akazienduftwolke, süß wie Honig, intensiver als Diesel und reiner als der Schweinetransporter, der uns auf dem Weg in den Schlachthof bei einem Elefantenrennen vernaschte. Wären wir nicht zur Blütezeit unterwegs, es wäre mir nie aufgefallen, wie viele Akazien in Italien wachsen, aber jetzt, da ich es schreibe, tippe ich eher auf Robinien, die ähnlich blühen, mindestens so stark


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