Digitaler Faschismus. Holger MarcksЧитать онлайн книгу.
Technologien zu einer neuen Norm geworden, dass man Inhalte jederzeit und überall selbst veröffentlichen kann, ohne einer Kontrolle durch Dritte zu unterliegen. Mit dieser Freiheit, sich ohne große Voraussetzungen einer Öffentlichkeit mitteilen zu können, stieg natürlich die Menge an zugänglichen Informationen ebenso wie die Zahl ihrer Sender, die in verschiedensten Formaten um die Aufmerksamkeit der Nutzer buhlen. Der Medientheoretiker Clay Shirky hat diese Popularisierung von Informationstechnologien schon früh als »massenhafte Amateurisierung des Publizierens« bezeichnet.8 Sie erfuhr noch einmal einen deutlichen Schub mit der Einführung des Web 2.0, das mit seinen interaktiven Elementen die medialen Ausdrucksmöglichkeiten stark erweiterte. Seitdem setzen Tech-Unternehmen darauf, aus Konsumenten Produzenten zu machen, die die Kultur der Plattformen mitgestalten. »Broadcast Yourself« war der Slogan, mit dem etwa YouTube eine ganze Generation köderte. Dieses Versprechen digitalen Ruhms, gepaart mit monetären Anreizen, brachte schließlich die berüchtigten Influencer hervor, die zunächst Schleichwerbung für Firmen und später mitunter auch für politische Parteien und Bewegungen machten.
Die Plattformen waren aber auch eine Einladung, Teil einer globalen Community zu werden, die das digitale Interaktionsangebot für Aufrufe, Absprachen und Antworten in sozialen Fragen nutzt. Es dauerte nicht lange, bis diese Möglichkeiten von vielen wahrgenommen wurden, um sich politisch zu organisieren und Prozesse der gesellschaftlichen Veränderung anzustoßen. Insbesondere die Protestbewegungen, die sich Ende der 2000er-Jahre rund um den Globus formierten, wären hier zu nennen. Man denke etwa an die Occupy-Bewegung in den USA oder an die Platzbesetzungen in Spanien und Griechenland, deren Mobilisierungsdynamik vor allem durch die sozialen Medien ermöglicht wurde. Mit den verschiedenen Aufständen in der islamischen Welt wurden manche Plattformbetreiber gar zu Geburtshelfern von Revolutionen erklärt. So wurden die Proteste 2009/10 im Iran als »Facebook-Revolution« und die Revolution in Tunesien 2010/11 als »Twitter-Revolution« bezeichnet. Insgesamt gilt der Arabische Frühling, der mit den tunesischen Ereignissen ausgelöst wurde, als Beleg dafür, wie die Kraft der Plattformen demokratische Impulse in autoritären Staaten fördern kann.
Doch sehr bald schon erhielt die Romanze zwischen Demokratie und sozialen Medien einen Dämpfer. Nicht nur weil die digital organisierten Proteste und Aufstände Gegenreaktionen hervorriefen, die demokratische Perspektiven erstickten, sondern auch weil autoritäre Kräfte, wo sie nicht die sozialen Medien ohnehin beschränkten, sich diese zunutze machten, um gegen demokratischen Widerstand vorzugehen. Infolge der Gezi-Proteste 2013 in der Türkei etwa wurde es üblich, Oppositionelle über Mitteilungen in den sozialen Medien zu identifizieren und zu verfolgen. Zugleich gelangten seither vielerorts autoritäre Politiker in höchste Staatsämter – beispielsweise Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien –, deren Wahlerfolge ohne finanzstarke Kampagnen in den sozialen Medien ebenso wenig denkbar gewesen wären wie die Brexit-Entscheidung im Vereinigten Königreich. Das Zusammenspiel aus Beschleunigung, Personalisierung und Emotionalisierung der öffentlichen Kommunikation hilft offenbar jenen Kräften, die einfache und schnelle Antworten auf komplexe Probleme liefern, während die neuen Möglichkeiten der Desinformation es zugleich einfacher machen, der Öffentlichkeit Sündenböcke für ebendiese Probleme zu präsentieren. Ein besonders trauriges Beispiel hierfür ist der Völkermord an den Rohingya in Myanmar 2017, an dem die gezielte Verbreitung von Hass und Hetze in den sozialen Medien einen entscheidenden Anteil hatte.
Aber auch ein weiterer »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, wie es der Philosoph Jürgen Habermas nennt,9 folgte der Digitalisierung auf dem Fuß. Denn die zunehmende Konzentrierung von Internetnutzern auf bestimmte Plattformen führte dazu, dass sich neue Teilöffentlichkeiten bildeten, die nach den Regeln der Tech-Unternehmen funktionieren. So sind gerade die sozialen Medien darauf ausgerichtet, Reaktionen hervorzurufen, die eine Positionierung verlangen. Plattformen wie Facebook geben gar einen Katalog aus Emotionen vor, mit denen Nutzer auf Inhalte reagieren können und sollen: Liebe, Lachen, Überraschung, Traurigkeit und Wut sind neben dem Like-Button Indikatoren für Akzeptanz, Beliebtheit oder Ablehnung. Die öffentliche Relevanz von Themen und Statements leitet sich nicht selten aus dieser ständigen Vermessung von Inhalten ab. Zugleich werden Nutzerdaten so aufbereitet, dass sie sowohl von Unternehmen als auch politischen Parteien dazu genutzt werden können, Zielgruppen mit maßgeschneiderten Informationen zu beeinflussen. Die Folge eines solchen Mikrotargetings, bei dem Nutzer scheinbar individuell angesprochen werden, ist eine besonders drastische Fragmentierung von Öffentlichkeit. Sie untergräbt eine wichtige Grundlage der Demokratie, nämlich die, dass die Bürger möglichst gleich und ausgewogen informiert werden, um in freiem Willen eine rationale Entscheidung zu treffen.
Generell gehört es zu den Interaktionsdynamiken sozialer Medien, dass sich Nutzer Gemeinschaften suchen, deren Ansichten und Werte sie grundsätzlich teilen. Dieses Phänomen, das häufig mit dem – umstrittenen – Begriff der »Filterblase« in Verbindung gebracht wird, ist nicht unbedingt neu. Auch vor dem Internet haben es Menschen vorgezogen, an Orten ihre Zeit zu verbringen, wo sie sich respektiert fühlen und Interessen mit anderen teilen. In den Gruppen und Newsfeeds sozialer Medien wird allerdings die selektive Wahrnehmung des Weltgeschehens dermaßen durch Algorithmen mitgesteuert, dass zwei Menschen, die in derselben Nachbarschaft leben, ihre Umgebung völlig anders wahrnehmen können, weil sie unterschiedlichen Informationssystemen ausgesetzt sind. Andererseits kommen Menschen über die sozialen Medien eher mit Ideen in Kontakt, von denen sie in einer analogen Welt vielleicht nie gehört hätten. Denn über die leicht zu produzierenden und konsumierenden Publikationsformate können zuvor randständige Akteure – wie nicht zuletzt auch die extreme Rechte – leicht ein großes Publikum erreichen. Mit der richtigen Facebook-Story einen Nerv zu treffen oder mit einem viralen Hashtag eine Debatte auszulösen, sind so auch zentrale Motive politischen Handelns geworden. Um in diesem beschleunigten Informationsfluss jedoch mithalten zu können, ist Sichtbarkeit der entscheidende Faktor, weswegen politische Akteure zunehmend mit spektakulären Inszenierungen um die Aufmerksamkeit der Nutzer kämpfen. Die prinzipielle Zugänglichkeit der Informationen findet am Ende dort ihre Grenzen, wo ihre Dramatik nicht mehr ausreicht, um in die jeweilige »Echokammer« der potenziellen Rezipienten vorzudringen.
Kein Wunder also, dass sich nicht nur faktenbasierte Informationen im politischen Segment der sozialen Medien gut verbreiten. Politische Halbwahrheiten, Falschmeldungen, Desinformationen und Hassbotschaften sind zu einem bedeutenden Teil der digitalen Kommunikation geworden, auch weil das Geschäftsmodell der sozialen Medien sie nicht nur zulässt, sondern regelrecht danach verlangt. Denn den Betreibern der Plattformen, deren Kapital aus dem Traffic von Informationen erzeugt wird, geht es primär darum, dass Inhalte – egal welcher Art – möglichst schnell und weit Verbreitung finden, ohne auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft zu werden. Dank der beschleunigten Verbreitung spektakulärer Inhalte können daher auch Akteure mit extremen oder bizarren Weltanschauungen ihre Inhalte viral gehen lassen, indem sie diese nur hartnäckig genug wiederholen. Was zuvor aus der medial vermittelten Öffentlichkeit ausgegrenzt wurde, weil es journalistischen und wissenschaftlichen Standards nicht genügte, findet somit nun doch ein größeres Publikum. Die sozialen Medien sind insofern für weltanschauliche Richtungen, deren Annahmen mit den Prinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft kollidieren, eine unverhoffte Gelegenheit, um einen antiaufklärerischen »Informationskrieg« wieder aufleben zu lassen, wie es die extreme Rechte nennt.
Das eigentliche Problem ist dabei nicht, dass falsche Dinge behauptet werden. Auch aufgeklärte Zeitgenossen können sich irren. Und im Grunde dürfte es kaum einen politischen Akteur geben, der nicht schon mal Abstriche an der Wahrheit gemacht hätte – sei es nun aus Opportunismus oder gerade auch aus Verantwortungsbewusstsein. Denn Wahrheit ist in einer komplexen Welt auch immer eine Frage der Vermittelbarkeit, nicht zuletzt, weil demokratische Akteure das Mandat der Massen benötigen, um aufgeklärte Politik machen zu können. Da kann es durchaus im Sinne einer solchen Politik sein, eine komplexe Wahrheit, die nicht verstanden würde, durch zumindest eine einfachere Wahrheit zu ersetzen. Ob man sich damit bereits im Bereich der Lüge bewegt, ist objektiv ebenso schwer zu sagen, wie es unmöglich ist, Wahrheiten endgültig zu bestimmen. Was die sozialen Medien aber über dieses Grauzonenproblem hinaus plagt, ist die schiere Masse an zweifelhaften Inhalten, die nicht nur dazu beitragen, sondern deren Zweck es teilweise sogar ist, das, was als Wahrheit gilt, vollständig zu relativieren. Damit ihre kontrafaktischen Behauptungen verfangen können, benötigen gerade