Minarett. Leila AboulelaЧитать онлайн книгу.
und ich hätte darauf gefasst sein müssen. Ich hätte ihn kommen sehen sollen, den unvermeidlichen Seitenhieb auf die Bourgeoisie. Das war sein Lieblingswort. Aber diesmal war es noch schlimmer, er nahm kein Blatt vor den Mund und sprach den Namen meines Vaters aus – meinen Familiennamen, so vertraut und so nahe –, und es war wie ein Schlag in den Magen, in die Magengrube. Es verschlug mir den Atem, und mir wurde eiskalt, nur die Wangen brannten. Im Dröhnen in meinen Ohren – dem Gelächter ringsum – ging der Rest seines Satzes unter. Er sah mich kein einziges Mal an. Ich war unsichtbar, doch beim direkten Angriff auf meinen Vater fiel mein Name. Mein Name fiel, und alle lachten. Ich gehörte der Oberschicht an, ja, mütterlicherseits, mit einer langen Geschichte von Ländereien, Unterstützung der Briten, Hotels in der Hauptstadt und Bankkonten im Ausland. Und als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, wurde mein Vater der Korruption bezichtigt.
Ich drängelte mich aus der Menge, taub und blind für etwaige Blicke. Ich wusste, dass ich nicht weinen durfte und auf dem Weg zu meinem Auto Haltung bewahren musste. Ich liess mich auf dem heissen, klebrigen Plastiksitz nieder. Ich löste die Handbremse und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Als ich wegfahren wollte, klopfte es ans Fenster. Omar. Ein lächelnder, gutgelaunter Omar. Nicht der Omar der zwielichtigen Partys und dubiosen Gerüche, sondern ein strahlender Omar in weissem T-Shirt und Jeans. Ich kurbelte die Scheibe herunter.
»Was ist los, Nana?«
Wie konnte er es wissen? Vor langer Zeit hatten wir zusammen in Mutters Bauch geschlafen, einander zugewandt, strampelnd und zuckend. Ich würde gern wieder dorthin zurück. Jetzt fliessen die dummen Tränen.
»Was ist los, Nana?«
»Nichts.«
»Okay, lass mich fahren.«
»Aber du willst doch noch gar nicht nach Hause.«
»Ist schon gut, ich kann ja wiederkommen.«
»So dumm von mir.« Ich wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht und schniefte.
»Komm schon, mach Platz.«
Ich stieg aus und ging um den Wagen herum zum Beifahrersitz. Ich fühlte mich schlapp und mochte nicht reden.
Auf dem Heimweg beobachteten wir einen Unfall. Wir hörten das Glas splittern, als die beiden Autos zusammenstiessen, eins war ein Taxi und das andere ein blauer Datsun. Eine gaffende Menge versammelte sich, und der Verkehr kam zum Erliegen. Omar bog in eine Seitenstrasse ab, um dem Stau zu entkommen. Die Seitenstrasse hatte einen Graben und wurde von Häusern mit Metalltüren flankiert. An einer Tür war ein Muster aus Pik, Karo, Herz und Kreuz zu sehen. Omar legte Bob Marley in den Kassettenspieler und sang zu Misty Morning.
Fünf
Ich sprang in den Pool, und das Januarwasser war ein Schock. Ich tauchte hustend und atemlos wieder auf. »Eiskalt«, prustete ich.
»Du bist verrückt«, rief Randa unter dem Schirm eines Tischchens am Pool hervor. Sie trug eine glamouröse Sonnenbrille und ass ein überbackenes Käsesandwich. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu schwimmen und zu schwimmen, bis mir warm wurde. An der Oberfläche, die die Sonne den ganzen Morgen beschienen hatte, war das Wasser noch warm. Darunter war es viel kälter, darum schwamm ich nicht unter Wasser. Ich erreichte das flache Ende, stiess mich mit den Füssen an der Mauer ab und wendete, um im Bruststil zum tiefen Ende zurückzukehren. Ein paar Ausländer aalten sich dick mit Ambre Solaire eingeschmiert auf Liegestühlen in der Sonne und lasen Sidney Sheldon,9 aber ich hatte den ganzen Pool für mich.
Es dauerte drei Längen, bis ich nicht mehr steif vor Kälte war und es zu geniessen begann. Meine Augen brannten vom Chlor, und ich spürte seinen vertrauten Geschmack im Mund. Meine Arme und Beine teilten das Wasser und schafften mir Raum, um vorwärtszukommen. Gestern war ich an Anwar vorbeigelaufen, ohne hallo zu sagen – er hatte mit ein paar Freunden die neusten Wandzeitungen angeschlagen. Es hatte mir gutgetan, ihn zu ignorieren. Er wartete auf mich, als ich aus der Buchhaltungsvorlesung kam, und lächelte freundlich, als ob nichts gewesen wäre. Er dachte, ich würde mit ihm spazieren gehen, aber ich bog mit ein paar Mädchen einfach zur Cafeteria ab. Ich fühlte beim Schwimmen immer noch einen dumpfen Groll auf ihn.
Als ich aus dem Pool stieg, schlang ich ein Tuch um meine Mitte und setzte mich neben Randa.
»Der Bademeister konnte kein Auge von dir lassen«, sagte sie.
»Sehr lustig.« Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er trug ein gelbes Poloshirt über der Badehose. Er war Eritreer.
Ich nahm meinen Kamm aus der Tasche und begann damit an meinem Haar zu ziehen. Ich hatte kein so schönes und glattes Haar wie Mama.
»Willst du es dir nicht unter der Dusche waschen?«
»Nein.« Nach dem, was sie mir von dem Bademeister erzählt hatte, mochte ich mich nicht unter die Duschen stellen, die gleich neben ihm waren.
»Dann hat er dich gut im Blick«, kicherte sie.
»Genau.« Ich fühlte mich unbehaglich, ganz ohne Grund. Mama hatte nichts dagegen, dass ich schwimmen ging, solange ich keinen Bikini trug, aber seitdem ich an der Uni war, fühlte ich mich unwohl dabei, selbst in meinem schwarzen Einteiler.
»Mein Dad hat mir heute mein Flugticket gekauft«, sagte Randa.
»Nein!«
»Doch. Nächsten Samstag fliege ich ab. Und am Montag beginnt das Semester.«
Ich zählte die Tage: Es blieben noch zehn.
»Wir geben eine Abschiedsparty für dich«, sagte ich.
»Wunderbar!«
Ich versuchte mir vorzustellen, wohin sie gehen würde. Sie ging nicht nach London, sondern nach Wales. »Mein Cousin Samîr ist auch dort«, sagte ich, »am Atlantic College. Weisst du was, er hat gesagt, sie müssen klettern und anderen Sport draussen betreiben. Es gehört zum Lehrplan. Er kann dir alles erzählen; er ist gerade in seinen Weihnachtsferien hier.«
Ich zog meinen Stuhl unter dem Schirm hervor, damit die Sonne mein Haar trocknen konnte: meine Strähnen voll Chlor. Ich musste schnell nach Hause und es waschen und legen, denn ich hatte noch einen Abendkurs.
Ich trug meinen Jeansrock an dem Abend. Es war mein Lieblingsteil, eng und mittellang und hinten geschlitzt. Er hatte zwei Seitentaschen und einen Reissverschluss vorn, wie eine Hose. Dazu trug ich meine rote Kurzarmbluse mit den blauen Blümchen am Kragen. Die Frisur war mir ausnahmsweise geraten: Mein Haar war wellig, statt sich wild zu locken. Mein Aussehen war mir an dem Tag wichtiger als sonst. Als wollte ich gut aussehen, um Anwar zu ärgern oder um ihm zu zeigen, dass er mir egal war.
Er war nicht da, als ich um fünf an der Uni war. Ich war spät dran für meine Vorlesung, weil Omar mit Samîr ausgegangen war und ich den Fehler gemacht hatte, auf ihn zu warten. Eine Brise wehte um die Bäume, als ich die Abkürzung über den Rasen nahm. Der Küchengehilfe der Mensa breitete eine grosse Palmfasermatte im Gras aus. Er rollte sie aus und zupfte daran, um sie im genau richtigen Winkel hinzulegen.
Die Wirtschaftsvorlesung war gut an dem Abend – Rostows Modell,10 das ich begriff und das mir völlig einleuchtend schien. Unser Land sollte eines Tages abheben wie ein Flugzeug, und wir müssten bloss laufen und unsere Entwicklung beschleunigen, und dann gehe es vorwärts, langsam zuerst, aber dann immer schneller, weg von unserer Rückständigkeit und schneller und schneller, bis zum lift-off, take-off. Wir würden gross werden, normal wie all die anderen reichen Länder im Westen, wir würden sie einholen. All das schien mir kristallklar, und ich schrieb es in mein Notizheft und wünschte, Omar wäre hier, denn ich wusste, Rostow hätte ihm auch gefallen. Aber dann schob der Professor seine Brille über die Nase und sagte: »Und jetzt die marxistische Kritik an Rostows These der Unterentwicklung.« Also war das alles nicht wahr. Wir würden nicht abheben. Rundum begannen die Studenten mit den Füssen zu scharren, zu zappeln und zu murren, es sei Gebetszeit. Der Professor ignorierte sie. »Wie die Geschichte zeigt, sind nicht alle entwickelten Nationen Rostows Modell gefolgt …« Das Murren wurde lauter, zwei mutige