Anfang und Ziel ist der Mensch. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
noch verbleibende Verbindung lebte fortan vor allem aus den Tagen der Kindheit. Auch wenn es zu Beginn der Zwanzigerjahre zu einer Versöhnung der Brüder kam, fanden sie nicht zu der Unbekümmertheit früherer Tage zurück. Sie lebten ein jeweils anderes Leben: Heinrich das Leben eines Bohemiens, Thomas ein bürgerliches Leben in einem fest gefügten sozialen Rahmen. Für Heinrich änderte sich dies vorübergehend, als er 1914 die Prager Schauspielerin Maria Kanová heiratete. Die Brüder schauten mit anderen Augen auf die Welt. Ihre Bücher sprachen, augenfällig von Heinrichs Roman Im Schlaraffenland und Thomas’ Buddenbrooks an – sie erschienen kurz nacheinander – von dieser Verschiedenheit, das Leben zu betrachten und es in Literatur zu formen. Beide feierten große Erfolge. Thomas erhielt sogar 1929 den Literaturnobelpreis. Heinrich genoss in der Weimarer Republik höchstes Ansehen. Er wurde zum »Mann der Republik«. Aber mit seinen Büchern war ihm insgesamt nicht annähernd ein so anhaltend großer Erfolg vergönnt wie seinem jüngeren Bruder. Darunter litt er.
Als Schriftsteller in der »Bonner Republik« am Ende der Sechzigerjahre danach gefragt wurden, welche Romane sie von Heinrich Mann gelesen hätten, stellte sich heraus, dass nur wenige von ihnen tiefergehende Kenntnisse seines Werkes besaßen. Das mag sich heute geändert haben. Doch noch immer lasten auf seinem Werk zwei Schatten. Der Ruhm und literarische Erfolg seines Bruders Thomas und die deutsche Teilung, die Heinrich Mann als Vorzeige-Autor der DDR in der Bundesrepublik die verdiente Anerkennung versagte. Er hat sie bis heute nicht gefunden.
Kind aus wohlhabender Familie
Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und dessen junger Ehefrau Julia, geb. da Silva-Bruhns, in der Freien Hansestadt Lübeck geboren. Bei diesem Ehepaar handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Bürgerfamilie, sondern um junge Leute gehobenen Standes. Mitte der Siebzigerjahre flüsterte die stolze Mutter ihrem gerade einmal vierjährigen Sohn Heinrich ins Ohr: »Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.« Und das traf es auf den Punkt. Lübecker, die etwas auf sich hielten, protzten nach alter Hanseatischer Tradition nicht mit ihrem Wohlstand. Sie versteckten ihn aber auch nicht, vielmehr wussten sie damit behutsam umzugehen. Dies galt insbesondere für die alten Kaufmannsfamilien. Und dazu zählte die Familie Mann.
Heinrichs Vater führte ein seit Jahrzehnten einträgliches Kommissions- und Speditionsgeschäft, das vor allem auf dem Getreidehandel basierte. Die Familie erwarb damit so viel Ansehen, dass ihrem »Oberhaupt« der Titel eines »Königlich Niederländischen Konsuls« verliehen wurde. Thomas Johann Heinrich Mann wurde zudem 1877 zum Senator auf Lebenszeit berufen. Er zeichnete in Lübeck für das Finanz- und Steuerwesen verantwortlich. Auch seine elf Jahre jüngere Frau Julia da Silva, Heinrichs Mutter, mehrte das Ansehen der Familie. Sie hatte deutsch-portugiesische Wurzeln. Ihre Eltern lebten in Brasilien. Sie brachte gelebte Weltoffenheit nach Lübeck und verzauberte mit ihrem Charme und ihrer Anmut das familiäre Umfeld. Besonders begehrt waren ihre Einladungen zum Maskenball. Heinrich erinnerte in seiner Novelle Das Kind an diesen Ballzauber, der vom Kaiserlichen Hof Napoleons III. schließlich auch den Weg nach Lübeck fand. Er schrieb: »Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf.« Diese Sitten und Gebräuche fanden ihren Höhepunkt im Maskenball, dessen Faszination nicht nur die Höflinge in Paris erlagen, sondern auch die braven Lübecker. Heinrich wuchs in einer behüteten Welt des Wohlstands, der sozialen Anerkennung und in gewissem Maße des Exotischen auf. Im Maskenball fand dies seinen kultivierten Ausdruck.
Wie sich alsbald zum Leidwesen seines Vaters herausstellen sollte, fühlte Heinrich sich mehr vom Exotischen angezogen als vom Kaufmannswesen. Alle Versuche, ihn für Letzteres zu gewinnen, scheiterten. Ihn begeisterten Bücher, Schriftsteller und das ganz in der Nähe des elterlichen Hauses gelegene Theater. Die Gedichte von Heinrich Heine, Theodor Storm und Emanuel Geibel, die Balladen und Romane von Theodor Fontane hatten es ihm mehr angetan, als das Zahlenwerk des Kommissionshandels und die Verhandlungen mit den Getreidebauern. Schon als Schüler fing er an zu schreiben. Das Gymnasium trat dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Zuerst ein vortrefflicher Schüler, ließen seine Leistungen allmählich nach. Das Abitur zu machen, wozu es ihm keineswegs an Fähigkeiten mangelte, reizte ihn nicht. Er sah seine Zukunft nicht in Lübeck. Es zog ihn nach Dresden. Durch den Beginn einer Buchhandelslehre glaubte er, zusätzlich zur Profession des Schreibens auch noch das Lesen zum Beruf machen zu können. Doch schon schnell zeigte sich, dass von ihm anderes erwartet wurde, als Bücher zu studieren. Von seiner Mutter zum Freigeist erzogen, missfiel ihm die soziale Unterordnung in dem feinen aber kleinen Unternehmen Zahn und Jaensch. Um die Enge zu verlassen, kündigte er und suchte im S. Fischer Verlag in Berlin sein Glück. Dort begann er im April 1891 ein Volontariat. An der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität schrieb er sich als Gast ein. Damit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, die dort versammelten Geistesgrößen von Wilhelm Dilthey, über Heinrich von Treitschke bis Hermann Grimm zu hören. Doch auch der streng geregelte und lebensferne Universitätsbetrieb entsprach anscheinend nicht ganz seinem inneren Wesen. Er tummelte sich lieber in der Berliner Theaterszene und den Etablissements der Berliner Nacht. Der frühe und unerwartete Tod seines Vaters im Oktober 1891 bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben der Familie. Die Mutter zog bald darauf mit ihren Kindern nach München. Gerade 20 Jahre alt, musste Heinrich auf eigenen Füßen stehen. Fortan stand für ihn fest, Schriftsteller zu werden.
Jahre der Selbstfindung
Nach dem Tod seines Vaters führte er ein rastloses Leben. Von einer systematischen schriftstellerischen Arbeit konnte zunächst nicht die Rede sein. Aber er bereitete sich darauf vor; er las viel, hörte den einen oder anderen Vortrag und vertiefte sich in die Lektüre zeitgenössischer Autoren. Besonders Friedrich Nietzsche, dieser »Aufwühler des Zeitgeistes«, hatte es ihm angetan. Seine Werke wurden zu seiner Hauptlektüre. Hinzu kam der aufregende Prophet der Moderne, Hermann Bahr. Er nahm einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken und Schreiben. Bahr beschäftigte, wie die Hektik der Tage, die Industrialisierung und Landflucht, auf die innere Verfassung der Menschen einwirke, wie die rastlose Zeit deren Nerven und Seele bestimme, sodass schließlich sie – nicht die Vernunft – zum bestimmenden Wesenszustand des Menschen würde. Nach einem Blutsturz musste Heinrich sein Volontariat beim S. Fischer Verlag aufgeben und zu seiner Genesung längere Zeit in Sanatorien verweilen. Nachdem er seine Krankheit überwunden hatte, zog es ihn nach Italien; nach Florenz, Rom oder an den Gardasee nach Riva, das damals noch zum Habsburger Reich gehörte. Nur selten kehrte er nach München zu seiner Familie zurück. Italien galt in den Neunzigerjahren als Sehnsuchtsland der europäischen Oberschicht.
Heinrich führte zur Jahrhundertwende ein Künstlerleben. Hier und da gelang es ihm, einen Artikel zu schreiben, der in der Monatsschrift Die Gesellschaft und bald darauf auch in Die Gegenwart veröffentlicht wurde. Mitte der Neunzigerjahre gab er die Berliner Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert heraus und schrieb dafür zahlreiche Beiträge im Geiste der Wilhelminischen Zeit. Sein Lebensstil änderte sich erst, als er 1914 nach München zurückkehrte und Maria Kanová heiratete. Aus der Ehe ging die gemeinsame Tochter Leonie hervor, genannt Goschi.
Bedeutende Köpfe der Philosophie und Literatur beeinflussten Heinrich Manns schriftstellerische Arbeit. Über Bahr fand er zu dem französischen Schriftsteller Paul Bourget. Ihm widmete er seinen ersten Roman In einer Familie, der mit finanzieller Hilfe der Mutter bereits 1894 erschien. Bourget öffnete ihm den Blick in die Welt der heimatlosen Oberschicht, die ein ausschweifendes, genusssüchtiges Leben führt und das Wohl des Einzelnen über die gesellschaftliche Verantwortung stellt. Bourgets radikaler Individualismus, seine konservative Weltanschauung, seine Stoffauswahl und psychologisierende Darstellungsweise prägten ihn. Auch Heinrich Manns in den Neunzigerjahren entstandene Novellen atmen den Geist dieses französischen Meisters. Bourgets Weltanschauung formte sein Bewusstsein. Heinrich Mann war in den Neunzigerjahren ein patriotischer Monarchist. Seine Beiträge in der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert weisen ihn als Gefolgsmann Wilhelm II. aus. In seinen politischen Essays verteidigte er nicht nur den Kaiser, die Monarchie und das Gottesgnadentum; er polterte zugleich gegen das Parlament und die Juden. Obwohl er sich mit Nietzsche schon lange beschäftigt hatte,