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Der Kurier des Zaren. Jules VerneЧитать онлайн книгу.

Der Kurier des Zaren - Jules Verne


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und Jongleure machten vor ihren Schaubuden grossen Lärm — eine Sache, die sich von selbst versteht, denn diese armen Teufel hatten bei einem Handelsgeschäft ja nichts zu verlieren, aber die Geschäftsleute besannen sich, Verbindungen mit den Händlern aus dem mittleren Asien einzugehen, deren Heimat durch den Einfall der tatarischen Horden bedroht war.

      Noch ein anderes Kennzeichen verdiente Beachtung. In Russland trat die Militäruniform bei allen Gelegenheiten in Sicht. Die Soldaten mischten sich gern unter die Volksmenge, und gerade in Nischni-Nowgorod wurden während der Dauer dieser Messe die Polizeibeamten in der Regel durch zahlreiche Kosaken unterstützt, die mit der Lanze über der Schulter in dieser Ansammlung von dreimalhunderttausend Fremden Ruhe und Ordnung aufrechterhielten. An diesem Tage war aber auf dem Hauptplatz von Militär, Kosaken oder anderem nichts zu sehen. Jedenfalls waren sie in Voraussicht eines plötzlichen Abmarsches in ihren Kasernen zusammengezogen worden. Wenn nun aber auch Soldaten nicht zu sehen waren, so verhielt es sich doch nicht ebenso mit den Offizieren. Seit dem verflossenen Tage jagten aus dem Palast des Generalgouverneurs Adjutanten nach allen Richtungen. Es herrschte also ein ungewöhnliches Leben und Treiben, wofür sich eine Erklärung einzig und allein in der ernsten Natur der Ereignisse fand. Auf den Strassen der Provinz wimmelte es förmlich von Eilboten, sowohl in der Richtung nach Wladimir wie in der Richtung nach dem Uralgebirge. Unaufhörlich flogen Telegramme zwischen Moskau und Sankt Petersburg hin und her. Die Lage von Nischni-Nowgorod unweit der sibirischen Grenze erforderte offenbar die ernstesten Vorsichtsmassregeln. Dass die Stadt im 14. Jahrhundert von den Vorfahren dieser Tataren, die jetzt Feofar-Khans Ehrgeiz durch die kirgisischen Steppen führte, zweimal gestürmt worden war, konnte nicht in Vergessenheit geraten. Ein weiterer hoher Herr, der nicht weniger in Anspruch genommen war und zu tun hatte als der Generalgouverneur, war der Polizeioberst. Seinen Kommissaren, denen vor allen Dingen oblag, die Ordnung aufrechtzuerhalten, die Beschwerden entgegenzunehmen, über die Befolgung der Erlasse und Verordnungen zu wachen, war gleich ihm keine Freizeit beschieden. Die Verwaltungsbüros waren bei Tag und Nacht geöffnet und unaufhörlich belagert, sowohl von den städtischen Einwohnern als auch von den Fremden, Europäern oder Asiaten.

      Nun befand sich Michael Strogoff gerade auf dem Hauptplatz, als sich das Gerücht verbreitete, der Polizeioberst sei durch Eilboten in den Palast des Generalgouverneurs beordert worden. Ein aus Moskau eingetroffenes Telegramm von hoher Wichtigkeit sei, hiess es, Ursache zu diesem Befehl. Der Polizeioberst begab sich also in den Palast des Gouverneurs, und alsbald lief, gerade als ob die Ahnung hiervon in der Luft läge, die Neuigkeit unter der Bevölkerung herum, es sei irgendeine wichtige Massregel, deren sich niemand versehen hätte oder hätte versehen können, eine Massregel von höchst ungewöhnlichem Charakter, verhängt worden. Michael Strogoff hörte zu, was unter den Leuten gesprochen wurde, um nötigenfalls Nutzen hieraus für sich ziehen zu können.

      „Man will die Messe schliessen!“ rief der eine.

      „Das Regiment von Nischni-Nowgorod hat soeben Marschbefehl erhalten,“ versetzte ein anderer.

      „Die Tataren sollen, wie es heisst, Tomsk bedrohen,“ erklärte ein dritter.

      „Da kommt der Polizeioberst!“ rief es von allen Seiten. Ein gewaltiger Lärm war plötzlich entstanden. Allmählich legte er sich, und dann folgte allgemeine Stille. Jeder ahnte irgendeine wichtige Mitteilung von seiten des Gouvernements.

      Der Polizeioberst war, seine Beamten ihm voraus, aus dem Palast des Generalgouverneurs getreten. Ein Kommando Kosaken bildete seine Begleitung und drängte die Menge mit Lanzenstössen beiseite, die mit rücksichtsloser Gewalt versetzt und mit beispielloser Geduld hingenommen wurden. Der Polizeioberst langte in der Mitte des Hauptplatzes an. Für alle sichtbar, schwenkte er ein Telegramm in der Hand. Mit lauter, überall verständlicher Stimme verlas er die folgende Bekanntmachung: „Erlass des Gouverneurs von Nischni-Nomgorod. Paragraph 1: Jedem russischen Untertan wird hierdurch verboten, den Fuss aus der Provinz zu setzen, gleichviel aus welcher Ursache. Paragraph. 2: Allen Nichtrussen asiatischer Abkunft wird hierdurch befohlen, die Provinz binnen 24 Stunedn zu verlassen.“

      6. Bruder und Schwester

      Diese für die privaten Belange höchst verhängnisvollen Massregeln wurden durch die Lage der Dinge unbedingt gerechtfertigt. „Jedem russischen Untertan wird hierdurch verboten, den Fuss aus der Provinz zu setzen“: bedeutete für Iwan Ogareff, wenn er sich noch in der Provinz befand, die Verhinderung oder zum wenigsten doch die Erschwernis, zu Feofar-Khan zu gelangen, und beraubte diesen Tatarenhäuptling eines Bundesgenossen oder vielmehr Truppenführers, der Russland höchst gefährlich werden konnte. „Jedem Nichtrussen asiatischer Herkunft wird hierdurch befohlen, binnen 24 Stunden die Provinz zu verlassen“: bedeutete die Massenabschiebung all jener aus Mittelasien herbeigeströmten Handelselemente sowohl als auch jener Zigeuner-, Tsiganen- und Tsingarenbanden, die mit der tatarischen oder mongolischen Bevölkerung in näherer oder weiterer Verwandtschaft stehen und von der Messe hierher geführt worden waren. So viel Köpfe, so viel Spione — und ihre Ausweisung war durch den Zustand der Dinge gewiss geboten.

      Die Wirkung dieser beiden Blitzschläge auf die Stadt Nischni-Nowgorod, auf die sie notwendigerweise schärfer gemünzt waren und notwendigerweise empfindlicher wirkten als auf jede andere Stadt, wird sich leicht begreifen lassen. Die Nationalrussen konnten also, wenn sie durch Geschäfte über die sibirischen Grenzen hinaus gerufen würden, die Provinz nicht mehr verlassen, wenigstens augenblicklich nicht. Der Inhalt des ersten Paragraphen dieses Erlasses war bestimmt und klar. Er liess keine Ausnahme zu. Jegliches private Interesse musste vor dem allgemeinen, dem staatlichen Interesse, zurücktreten. Was den zweiten Paragraphen des Erlasses betrifft, so liess der Ausweisungsbefehl, der darin enthalten war, gleichfalls keinerlei Einwand zu. Er betraf keine anderer als solche Fremden, die asiatischer Herkunft waren; die brauchten aber nichts weiter zu tun, als ihre Handelsware wieder in Ballen zu packen und den Weg in umgekehrter Richtung, als sie hergekommen waren, zu ziehen. Was hingegen die Gaukler und Seiltänzer anging, die in beträchtlicher Zahl hier anwesend waren, und die fast tausend Werst zu wandern hatten, um bis zur nächstgelegenen Grenze zu kommen, so bedeutete für sie ein solcher Erlass das Elend im Handumdrehen. Deshalb erhob sich zuerst gegen diese ungewohnte Massregel ein Gemurr des Widerspruchs, ein Aufschrei der Verzweiflung, dem die Kosaken und Polizisten schnell ein Ende gemacht hatten — und fast im Nu nahm, was sich der Auszug aus dieser weiten Ebene nennen liesse, seinen Anfang. Die vor den Schaubuden gespannten Leinwandstücke wurden zusammengelegt, die Messetheater gingen in Stücke, die Tänze und Gesänge wurden abgebrochen, das Geschrei der Ausrufer verstummte, die Feuer verlöschten, die Taue der Seiltänzer wurden gelöst, die alten, abgeklapperten Pferde dieser Wanderbuden wurden aus den Ställen geholt und wieder vor die Deichseln gespannt. Polizisten und Soldaten, mit Knute oder Prügel in der Faust, spornten die Säumigen und besannen sich nicht, die Zelte niederzureissen auch wenn sie von dem armen Wandervolk noch nicht geräumt waren. Unter dem Einfluss solcher Massregeln stand es offenbar ausser Zweifel, dass der Platz von Nischni-Nowgorod vor Einbruch des Abends ganz geräumt sein würde, dass auf den grossen, lauten Tumult der Messe alsbald die Öde der Wüste, die Stille des Grabes folgen würde. Und von neuem muss wiederholt werden — denn hierin lag eine weitere Verschärfung dieser Massregeln — all diesem Wandervolk, das von dem Ausweisungserlass unmittelbar betroffen wurde, waren sogar die Steppen Sibiriens verboten, und nichts anderes würde ihnen übrigbleiben, als sich nach dem Süden des Kaspischen Meeres zu wenden, entweder nach Persien oder nach der Türkei oder in die Ebenen des Turkestan. Die Posten des Ural und der Gebirge, die gleichsam die Verlängerung dieses Flusses an der asiatischen Grenze bildeten, würden ihnen den Durchgang nicht erlaubt haben. An tausend Werst würden sie also durchwandern müssen, ehe sie den Fuss auf freien Boden setzen könnten.

      In dem Augenblick, als vom Polizeioberst der Erlass verlesen worden war, wurde Michael Strogoff durch eine Erinnerung, die in seinem Geist instinktiv auftauchte, lebhaft berührt. „Seltsames Zusammentreffen“, sagte er bei sich, „zwischen diesem Erlass, der die aus Asien gebürtigen Fremden ausweist, und den in letzter Nacht zwischen jenem Zigeunerpaar von der Tsiganenrasse gewechselten Worten! ,Väterchen selber ist es, der uns schickt, wohin wir gehen wollen,‘ sagte jener alte Kerl. Aber ,Väterchen‘ ist doch der Kaiser, der Zar — unter einer anderen Benennung kennt man ihn nicht im russischen Volk. Wie konnten diese Zigeuner die Massregel voraussehen,


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