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Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.

Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen


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blieb draußen und bellte den anderen Befehle zu.

      Hirka war es recht. Sie blickte sich um. Hier war kaum Platz für zwei. Das Zelttuch wurde in der Mitte von einem Stab hochgehalten. Der Boden war uneben, aber trocken, obwohl er aus Stoff bestand. Wahrscheinlich war er doppelt gelegt oder hatte eine gefettete Unterseite. Zwei Wolldecken lagen zusammengerollt auf einem Tierfell. Sonst enthielt das Zelt nichts. Nicht einmal eine Öllampe oder etwas zum Trinken.

      Hirka ließ ihren Stock fallen und sank auf die Knie. Sie war durstig, hungrig und müde, hätte aber nicht sagen können, was am meisten.

       Durstig.

      Sie streifte den Beutel ab und löste den ledernen Wasserbehälter, der an der Außenseite hing. Sie hatte unterwegs versucht zu trinken, aber es hatte nur wenige Pausen gegeben und das Wasser war zu kalt gewesen. Sie nestelte am Verschluss. Er war festgefroren, sie hatte nicht die Kraft, ihn zu öffnen. Ihre Finger waren gefühllos.

      Ihre Augen begannen zu brennen, sie war den Tränen gefährlich nah. Was war los mit ihr? Wollte sie gleich am ersten Tag heulen, an einem Ort, den sie sich selbst als Reiseziel ausgesucht hatte? Um des Friedens willen. Damit keine Totgeborenen in Ymsland einfielen. Das musste sie sich in Erinnerung rufen. Daran musste sie sich klammern. Frieden. Und daran, das Wissen zu erlangen, das sie brauchte, um Rime vom Schnabel zu befreien.

      Sie schloss die Augen. Er hatte einen Schnabel im Hals. Einen Rabenschnabel. Graal hatte Macht über ihn, so wie er sie über Urd gehabt hatte. Und Urd war verfault …

      Hirka warf den Wasserbeutel von sich. Spürte einen störenden Schneeklumpen unter dem Fußboden und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein.

      Was hatte sie eigentlich erwartet? Was hatte sie gedacht, welche Leute sie hier treffen würde? Eine Familie? War sie so naiv gewesen? War sie noch immer nichts anderes als ein junges Mädchen, das sich danach sehnte, irgendwo zu Hause zu sein?

      Das Türfell wurde beiseitegeschoben und Skerri kam herein. Hirka sprang auf. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie Skerris Gesicht sah. Das schwarze Haar und die schwarzen Lippen auf der bleichen Haut. Wäre sie keine Umpiri gewesen, hätte Hirka sie auf rund fünfundzwanzig Winter geschätzt. Jung, fast mädchenhaft. Eine gruselige Kombination aus süß und gefährlich.

      »Setz dich«, knurrte sie. Hirka gehorchte.

      Skerri ließ sich ihr gegenüber nieder. Das Lederkorsett knarrte und fügte sich dem starken Körper.

      »Kuro«, sagte sie und nickte zu dem Kästchen, das oben auf dem Beutel befestigt war.

      »Kuro?« Hirka hatte nicht erwartet, den Namen hier zu hören. Das war ihrer, sie hatte ihn sich selbst ausgedacht, als Naiell noch ein Rabe war.

      »Herz«, erwiderte Skerri ungeduldig. »Es bedeutet Herz. Lass mich ihn sehen.«

      Hirka hätte über die Bedeutung gelächelt, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Sie band das Kästchen los und nahm es auf den Schoß. Es war bescheiden, gemessen an seinem Inhalt. Eine unscheinbare Metallschachtel, matt wie eine abgenutzte Messerklinge. Kalt unter den Fingern. Bevor sie durch die Tore gegangen war, hatte sie sich Sorgen gemacht, dass das Eis darin schmelzen könnte. Was für ein Witz …

      Hirka löste die Scharniere an den Seiten und öffnete den Deckel. Naiells Herz lag begraben in zerstoßenem Eis. Bleich wie eine geballte Faust. Hirka bildete sich ein, ihn immer noch riechen zu können. Graals Bruder. Ihr Onkel. In Ymsland war er der Seher gewesen. Hier in Dreysíl war er etwas ganz anderes. Verbrecher. Volksfeind.

      Skerri riss das Kästchen an sich. Schloss die Augen und holte tief Luft, als wäre der Geruch Nahrung. Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen.

      »Naiell …«

      Es war ein Flüstern, so heiser von Hass, dass Hirka begriff, wie nahe ihm diese Frau gestanden haben musste. Sie mussten sich gekannt haben. Hirka starrte sie an. »Du warst dort …«

      Skerri öffnete die Augen. Milchartig waren sie. Wirklichkeitsfern. Gerichtet auf etwas weit außerhalb des kleinen Zelts. »Ich habe einen Eid geschworen, als der Krieg vorbei war. Als ich begriff, dass er uns verraten hatte. Als ich sah, wie er seinen Bruder gefangen nahm und quälte. Ich schwor, dass ich dieses Herz mit meinen eigenen Klauen herausreißen würde. Ein Jahrtausend lang habe ich darauf gewartet, seinen Geruch wieder wahrzunehmen. Ein Jahrtausend. Und nun ist er hier. Was bleibt jetzt noch, als zurückzuholen, was uns gehört?«

      Hirka antwortete nicht. Sie fürchtete, dass Skerri ihr an die Kehle springen würde, wenn sie etwas Falsches sagte. Die schwarzen Lippen zuckten. Die Totgeborene kämpfte mit einer Vergangenheit, an der Hirka keinen Anteil hatte. War sie deshalb so zornig? Weil Hirka sein Herz bei sich trug? Hatte Rime getan, was Skerri am liebsten selbst erledigt hätte?

      Die Luft schien gesättigt von Unbehagen. Hirka tippte mit dem Finger gegen den Deckel, sodass er zufiel. Skerri erwachte aus ihrer Trance. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Schwarz verblasste nicht. War das eine Tintenstichelei? Hatte sie sie dauerhaft gefärbt?

      Sie stellte das Kästchen hin.

      »Wir haben ein Problem, Hirka.« Sie schüttelte den Kopf, dass die Zöpfe flogen. Wie ein Tier, das sein Fell trocken schüttelt.

      »Was für ein Problem?«

      »Dich.«

      Hirka wollte widersprechen, aber sie war zu nervös. Und widerstrebend neugierig, was genau das Problem sein sollte.

      Skerri legte den Kopf schräg. Eine vogelartige Bewegung, die an Graal und Naiell erinnerte. Hirka wagte eine Frage.

      »Skerri, sind wir miteinander verwandt?«

      Skerri blinzelte, als wäre sie von der Frage überrumpelt worden, aber sie fing sich rasch wieder. »Wir sind verwandt, aber nicht blutsverwandt. Wir gehören zum selben Haus. Du wirst deine Blutsverwandten treffen, wenn wir nach Ginnungad kommen, und genau da liegt das Problem. Ich muss den Raben jetzt schicken. Ich muss Nachricht geben, dass du hier bist. Dass du gekommen bist. Aber was soll ich sagen?«

      »Wie meinst du das?«

      Skerri hob das Kinn. Sah sie von oben herab an, als wäre sie eine Idiotin. »Du bist wie sie! Schau dich doch an! Du hast Augen wie sie. Du hast keine Klauen. Keine Zähne. Du bist langsam. Schwach. Jämmerlich, wie sie. Du bist mehr Mensk als Umpiri. Und du sprichst nichts anderes als Tiersprache.«

      Hirka spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. Scham beschlich sie, als wäre sie in die Vergangenheit zurückgeworfen worden. Sie war in Elveroa. Bei Vater, der immer versuchte, sie zu verstecken, weil er begriffen hatte, was sie war. Bei Ilume, die sie abwies, wenn sie nach Rime fragte. Sie war das Ungeheuer. Das schwanzlose Odinskind. Auch hier.

      Sie war wieder klein. Und das ärgerte sie. Hirka biss die Zähne zusammen.

      »Tut mir leid, wenn ich nicht das bin, was du erwartet hast.«

      Skerri schnaubte. »Dass es dir leidtut, nützt auch nichts. Wir müssen was Anständiges aus dir machen, bevor du vorgezeigt werden kannst, und zwar schnell. Ehrlich gesagt wusste ich gleich, dass wir dieses Problem bekommen würden, als ich von dir hörte. Graal war ein bisschen … ausweichend.«

      »Du bist also diejenige, die mit ihm spricht?«

      »Ich. Sonst niemand.«

      Hirka fiel auf, mit welchem Stolz sie das sagte. Graal war jemand von Bedeutung, das war vermutlich auch der einzige Grund, warum sie selbst noch am Leben war. Und wennschon. Sie war nicht bereit, sich durch einen Vortrag über all das zu quälen, was mit ihr nicht stimmte. Den hatte sie schon allzu oft gehört.

      »Sag mir einfach, was zu tun ist, Skerri.«

      Skerri betrachtete sie eine Weile prüfend. Dann erhob sie sich abrupt. »Ich sage, dass du gekommen bist. Mehr nicht. Dann werden wir sehen, was wir hinkriegen. Die Sprache ist das Wichtigste. Du kannst nicht deren Sprache in unser Haus schleppen. Ǫni wird dich unterrichten, während wir unterwegs sind.«


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