Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.
vernünftig zu sprechen. Und wie du dich benehmen sollst.« Skerris Blick wanderte über ihren Körper. »Um die Kleidung kümmern wir uns später.«
Sprache, Benehmen, Kleidung … All das hätte Hirka nicht gleichgültiger sein können. Wenn sie einen Gelehrten brauchte, dann jemanden, der sich auf die Gabe verstand.
»Was ist mit …« Hirka hätte beinahe »Blindwerk« gesagt, verkniff es sich aber gerade noch. »Was ist mit der Gabe? Ich muss mit jemandem reden, der mir alles über die Schnäbel erzählen kann.« Sie legte ihre Hand an den Hals, um zu unterstreichen, was sie meinte.
Skerri starrte sie ausdruckslos an.
Sie musste einen anderen Ansatz finden. Etwas, das in Skerri den Wunsch auslöste, ihr zu helfen. Ihr zu antworten. Mit anderen Worten, sie musste Skerri bei ihrem Stolz packen.
»Habt ihr wirklich keine Gabengelehrten?«
Skerris Augen verengten sich zu weißen Schlitzen. »Selbstverständlich haben wir die! Die Besten! Wir haben Gabenschleuderer und Seher, aber die brauchen dich nicht zu interessieren. Das ist im Moment nicht vordringlich.«
Seher? Die Blinden hatten Seher?
Natürlich. Wie hätte er sonst auf die Idee kommen sollen?
Hirka stieß ein kurzes Lachen aus. Naiell hatte seine eigene Welt verlassen, aber etwas mitgenommen, das er kannte.
Skerri wandte sich zum Gehen. »Dies ist dein Zelt«, sagte sie. »Bleib hier. Ǫni holt dich, wenn ich den Raben geschickt habe. Dann wirst du die anderen kennenlernen.«
Sie schob das Fell beiseite. Licht fiel herein. Sie sah Hirka wieder an. »Und noch etwas: Wenn du noch einmal versuchst, das Knie vor jemandem zu beugen, der von geringerem Stand ist als du, werde ich dir deine Knie zertrümmern.«
Skerri verschwand mit peitschenden Zöpfen.
Hirka schloss die Augen.
Nicht nach Pferden fragen. Nicht die Wahl der Lagerplätze kritisieren. Nicht das Knie beugen.
Richterin
Hirka hatte sich lange nach Klarheit gesehnt. Nach Information. Aber jetzt begann ihr zu dämmern, dass zu viele Informationen schlimmer waren als gar keine.
Ǫni bedeutete »Zunge« auf Umǫni, wie die Sprache hieß. Das war der Rufname der Frau, die ihre Lehrerin sein sollte, und Hirka begriff, wieso. Ǫni redete ununterbrochen, ohne Pause. Im Gegensatz zu Skerri bereitete es ihr offenbar keine Qualen, Ymsländisch zu sprechen, aber sie war ja auch zu jung, um den Krieg erlebt zu haben. Das machte sie neugieriger als Skerri und vermutlich weniger voreingenommen.
Die Sprache hatte sie vor zwei Jahren zu lernen begonnen, auf Wunsch von Skerri. »Wunsch« war das Wort, das Ǫni benutzte. Hirka hatte den Verdacht, dass »Befehl« der Sache wohl näher kam. Erst jetzt hatte die Gelehrte erfahren, wofür das nötig war. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, dass nicht mehr alle Steintore tot waren.
Ǫni interessierte sich lebhaft für alles, was Hirka von anderen Welten zu erzählen wagte, und sie musste sich immer wieder selbst zurücknehmen, um das zu tun, was sie tun sollte: Hirka beibringen, wie sie sich zu benehmen hatte. Und natürlich auch, wo ihr Platz in der Hierarchie war. Das schien das Allerwichtigste zu sein.
Von allen Blinden, denen Hirka begegnet war, erschreckte Ǫni sie am wenigsten. Vielleicht, weil sie Grübchen hatte, wenn sie lächelte. Oder weil ihr braunes Haar den Eindruck von Wärme vermittelte. Ihre Tunika war weit geschnitten und überhaupt nicht dafür gemacht, ihren Körper zur Schau zu stellen. Und dann redete sie, natürlich. Das half schon, weil es sonst niemand tat.
Hirka war sich sicher, dass sie über eine Stunde mit der Frau im Zelt gefangen gewesen war. Bisher war sie noch keinem der anderen offiziell vorgestellt worden. Auf Skerris Anweisung, vermutete sie.
Ǫni hielt das Fell am Zelteingang zur Seite, sodass Hirka hinausblicken konnte, während sie sich unterhielten. Die vier anderen waren draußen. Nur Skerri fehlte. Ǫni zeigte auf Grid, der ein Stück entfernt stand und Schnee aus dem hohlen Stab stocherte. Er trug eine enge Weste, die mit Fell gesäumt war. Seine nackten Arme waren sehnig und stark.
»Grid ist noch keine dreihundert Jahre alt, aber er hat viele … wie heißt das? Viele Wettkämpfe gewonnen. Er übt mit Skerri, sie sind gute Freunde. Skerri und Grid sind die einzigen Dreyri hier. Das bedeutet, sie sind …«
»Vom Blut der Ersten …« Hirka erinnerte sich nur allzu gut.
»Ja, genau. Dreyri, von den alten Blutlinien. Nur die Dreyri haben Häuser, die Namen tragen. Wir anderen sind gewöhnliche Leute. Umpiri. Wir arbeiten für die Häuser. Hungl und Tyla dort drüben dienen beide in Modrasmes Haus.«
Hirka betrachtete sie. Hungl mit dem Ziegenbart. Tyla mit dem blonden Haar. Sie war am Steinkreis nicht dabei gewesen, sondern hatte hier im Lager mit Ǫni gewartet.
»Sie sehen nicht aus wie Diener. Eher wie Krieger«, sagte Hirka.
Ǫni verbarg ein Lächeln hinter der Hand. »Wir sagen Diener. Die Häuser haben keine Krieger. Oder Wachen. Das gehört sich nicht. Stattdessen haben sie Diener. Weil …«
»Weil sie es nicht nötig haben, sich beschützen zu lassen …«
Ǫni nickte eifrig. »Hungl spricht ein wenig Ymsländisch, aber nicht sehr gut, und …« Sie sah Hirka an. Biss sich nervös auf die Lippe. »Du musst gut Umǫni sprechen, bevor das höchste Haus dich zu Gesicht bekommt.«
Hirka tat, als hätte sie es nicht gehört. Die Vorstellung, präsentiert zu werden, brachte sie trotz der Kälte ins Schwitzen. Es war jetzt schon sonnenklar, dass sie die Erwartungen, die man an sie stellte, nicht erfüllen würde.
»Ist das ein Lagerfeuer, was sie dort herrichten?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja, ich weiß, dass du schneller frierst als wir. Am besten halten die Dreyri die Kälte aus. Sie frieren auch, aber …«
»Ihnen ist wichtiger, so zu tun, als wäre es nicht so?«
»Du lernst schnell.«
»Und er?« Hirka nickte zu dem Mann mit dem Tropfen auf der Stirn. Stahlgraues Haar und steinernes Gesicht. Er ging mit einem Armvoll knorriger Äste auf die Feuerstelle zu.
»Er ist Kwessar. Einer der Gefallenen. Sie waren zu zweit, aber ich habe gehört, dass der andere heute gestorben ist. Deshalb muss man immer zwei haben. Damit einer den anderen töten kann, falls nötig. Aber mehr als zwei sollte man nicht mitnehmen.«
Hirka folgte ihm mit dem Blick. Er ließ das Holz an der Feuerstelle fallen.
»Warum nicht?«
»Nun«, erwiderte Ǫni. »Wenn man mehr als zwei Männer mitnimmt, die nichts zu verlieren haben, dann ist man selbst schuld, wenn es schiefgeht, nicht wahr?«
Hirka brannten eine Menge Fragen auf der Zunge, aber Ǫni ließ ihr keine Chance. »Die Gefallenen gehören nicht zu den Häusern. Sie sind Außenstehende. Du siehst das an dem Tropfen und am Namen. Sein Name war Kolail, aber da er ein Gefallener ist, wird er Keskolail genannt. Kes ist eine Vorsilbe, die von Kwessar kommt, das bedeutet …«
Plötzlich stand Skerri in der Zeltöffnung. »Du verschwendest Zeit, Ǫni. Hast du ihr beigebracht, wie sie sich vorstellen soll? Welches die höchsten Häuser sind?«
Ǫni kam eilig auf die Füße. Skerri schickte sie weg und hockte sich vor das Zelt. Hirka zwang sich, am Eingang sitzen zu bleiben, obwohl es verlockend war, wieder ins Zelt zu kriechen. Skerri sah sie an.
»Hungl und Keskolail haben den Krieg mitgemacht. Das bedeutet, dass sie solche wie dich schon gesehen haben. Sie wissen, was sie erwarten können. Aber wir können uns nicht erlauben, dass sich Gerüchte