Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
litt, vereinfachte sich das Dienstwesen mit der Zeit mehr und mehr. Phileas Fogg verlangte von seinem einzigen Lakai eine ganz außergewöhnliche Pünktlichkeit und Regelhaftigkeit. Gerade an dem Tage, an welchem unsere Erzählung einsetzt, am zweiten Oktober, hatte Phileas Fogg James Forster den Abschied gegeben, weil sich sein Lakai dieses Namens dadurch vergangen hatte, daß er das Rasierwasser für seinen Herrn statt auf sechsundachtzig Grad Fahrenheit nur auf vierundachtzig Grad Fahrenheit gewärmt hatte; und nun wartete Phileas Fogg auf James Forsters Nachfolger, der sich zwischen elf und halb zwölf vorstellen sollte.
Phileas Fogg saß steif in seinem Lehnstuhl; die Beine hielt er aneinander gezogen wie ein Soldat bei der Parade; die Hände ruhten auf den Knien; den Körper hielt er aufgerichtet, den Kopf steil in die Höhe; die Augen hingen an dem Zeiger der äußerst komplizierten Stehuhr, die die Stunden, die Minuten, die Sekunden, die Tage, die Vierteljahre und das Jahr anzeigte. Wenn es halb zwölf schlug, mußte Herr Fogg seiner täglichen Gewohnheit gemäß den Fuß aus dem Hause und sich selbst in Bewegung nach dem Reform-Klub setzen.
In diesem Augenblick wurde an die Tür des kleinen Salons geklopft, James Forster, der verabschiedete Lakai, zeigte sich auf der Schwelle. „Der neue Lakai“, sagte er.
Ein Mann in den Dreißigern wurde sichtbar und machte einen Bückling.
„Sie sind Franzose und heißen John?“ fragte ihn Phileas Fogg.
„Jean, wenn gnädiger Herr nichts dagegen haben“, antwortete der eben eingetretene, „Jean Passepartout — ein Name, der an mir hängen geblieben ist und den meine natürliche Befähigung, mich aus jeder Verlegenheit zu ziehen, gerechtfertigt haben mochte. Ich glaube, ein rechtschaffener Lakai zu sein, gnädiger Herr; ein mir inne wohnender Drang zur Freiheit und Selbständigkeit hat mich aber mancherlei Handwerk in die Arme getrieben. Ich bin fahrender Sänger gewesen, bin Stallknecht im Zirkus gewesen, habe Voltige geritten und auf dem Seil getanzt wie Blondin.
Dann bin ich, um meine Talente besser zu verwerten, Turnlehrer geworden und zu guterletzt Pariser Feuerwehrmann. In meinem Zeugnis stehen sogar sehr große Brände verzeichnet. Aber ich habe Frankreich seit fünf Jahren schon den Rücken gekehrt und da mich die Lust nach häuslichem, nach Familienleben ankam, bin ich in England Lakai geworden. Da ich nun ohne Stellung bin und in Erfahrung gebracht habe, daß Herr Phileas Fogg der pünktlichste, seßhafteste Mann der Vereinigten Königreiche sei, habe ich mir erlaubt, mich dem gnädigen Herrn vorzustellen, von der Hoffnung geleitet, ein Leben in Ruhe und Frieden hier führen und meine Vergangenheit vergessen zu können bis auf diesen Namen Passepartout . . .“
„Passepartout ist mir genehm“, erwiderte der Kavalier; „Sie sind mir empfohlen worden. Ich habe gute Auskunft über Sie bekommen. Sie kennnen die Bedingungen?“
„Jawohl, gnädiger Herr!“
„Gut. Welche Zeit haben wir jetzt?“
„Halb zwölf“, versetzte Passepartout, indem er aus den Tiefen seines Brustlatzes eine silberne Uhr von mächtigem Umfange heraufzog.
„Ihre Uhr geht nach“, sagte Herr Fogg.
„Gnädiger Herr wollen verzeihen, aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit!“
„Ihre Uhr geht um vier Minuten nach. Indessen lassen wir das jetzt! Es genügt die Abweichung festzustellen. Demnach stehen Sie von diesem Augenblick an, elf Uhr neunundzwanzig Minuten früh, von heute Mittwoch, den zweiten Oktober des Jahres 1872 an, in meinen Diensten.“
Phileas Fogg erhob sich, als er den Satz zu Ende gesprochen hatte, griff mit der linken Hand nach seinem Hute, setzte ihn mit automatenhafter Gebärde auf den Kopf und verschwand ohne jedes weitere Wort.
Passepartout hörte, wie sich die Haustür zum erstenmale schloß: sein neuer Herr war aus dem Hause gegangen. Passepartout hörte, wie sich die Haustüre zum anderen male schloß: sein Vorgänger James Forster hatte das Haus verlassen. Passepartout blieb allein zurück in dem Haus in der Saville-Row.
Zweites Kapitel,
in welchem Passepartout die Überzeugung gewinnt, daß er endlich sein Ideal gefunden
„Meiner Treu“, sagte Passepartout bei sich, zu Anfang ein wenig verdutzt, „bei Madame Tussaud habe ich Lebemänner gekannnt, die genau so lebendig waren wie mein neuer Herr!“
Hier muß nun bemerkt werden, daß die „Lebemänner“ bei Madame Tussaud Wachsfiguren sind, die sich in London eines sehr starken Zuspruchs erfreuen und denen wahrhaftig weiter nichts als die Fähigkeit der Sprache fehlt.
Passepartout hatte in den wenigen Augenblicken, die er eben mit Herrn Phileas Fogg gesprochen hatte, seinen zukünftigen Herrn und Gebieter rasch aber sorgfältig gemustert. Es war ein Herr, der vierzig Jahre alt sein mochte, von edler, schöner Figur, groß, mit blondem Haar und Backenbart. Seine Stirne war glatt; die Schläfen zeigten Runzeln; sein Gesicht war eher blaß als gerötet; sein Gebiß war vorzüglich. Er schien im höchsten Maße, was die Physiognomiker „die Ruhe in der Beweglichkeit“ nennen, zu besitzen, — eine Fähigkeit, die durchwegs solchen Menschen eigentümlich ist, die lieber arbeiten als viel Wesens von sich zu machen. Er war ruhig, phlegmatisch, helläugig und zuckte mit keiner Wimper — war also der vollendete Typus jener fischblütigen Söhne Albions, die sich im Vereinigten Königreiche häufig genug die Hände reichen. In den verschiedenen Akten seines Daseins betrachtet, weckte besagter Herr die Vorstellung von einem in all seinen Teilen gleichmäßig abgewogenen, rechtschaffen abgezirkelten Dasein, das die gleiche Vollkommenheit aufwies wie ein Chronometer. Den Grund für diesen Eindruck hatte man in dem Umstande zu suchen, daß Phileas Fogg die personifizierte Pünktlichkeit war. —
Phileas Fogg gehörte zu jenen Leuten von mathematischer Genauigkeit, die mit jedem Schritt und jeder Bewegung rechnen, immer bereit und bei der Hand sind, ohne je eilig zu erscheinen. Tatsächlich setzte er keinen Fuß umsonst, da er immer nur auf das kürzeste ausschritt. Niemals vergeudete er einen Blick hinauf zur Decke. Nie erlaubte er sich eine überflüssige Gebärde. Nie hatte man ihn erregt oder verwirrt gesehen. Er war ein Mensch, dem man absolut keine Eile ansah, der aber immer zur richtigen Zeit zur Stelle war. Man wird begreifen, daß er für sich allein lebte und außerhalb aller gesellschaftlichen Beziehungen stand. Er wußte, daß man im Leben mit Reibungen rechnen muß, und da jede Reibung hemmend wirkt, rieb er sich an niemand.
Jean mit dem Beinamen Passepartout war ein Pariser aus Paris von echtem Schrot und Korn, der seit fünf Jahren in London als Kammerdiener lebte, aber noch immer umsonst nach einem Herrn gesucht hatte, dem er mit wirklicher Anhänglichkeit dienen könne.
Passepartout war keiner von jenen Lakaien, die die Schulter hoch und die Nase noch höher tragen, die aller Welt keck und kalt in die Augen sehen und im Grunde kaum etwas anderes als unverschämte Patrone sind. Nein! Passepartout war ein braver Bursche von angenehmem Äußern, mit einem freundlichen Gesicht, einem leicht hervorspringenden Lippenpaar, das immer zum Schnabulieren oder zum Küssen bereit zu sein schien. Er hatte ein leutseliges Wesen und einen jener netten runden Köpfe, die man gern auf den Schultern eines lieben Freundes sieht. Sein freundliches Gesicht mit den blauen Augen und dem frischen Teint neigte ein wenig zur Fülle. Er hatte eine breite Brust, war von großer Figur, hatte einen sehr kräftigen Körperbau und besaß eine herkulische Kraft, die durch Turnübungen in seinen Jugendjahren zu einer geradezu wunderbaren Entwicklung gebracht worden waren. Sein braunes Haar war à la Vivatstolle gebürstet. Kannten die Bildhauer des Altertums achtzehn Manieren, das Haupthaar Minervas zu ordnen, so kannte Passepartout bloß eine einzige, um sein Haupthaar zu ordnen: drei Striche aufwärts mit dem Kamm, und seine Haarfrisur war fertig.
Darüber, ob der ungezwungene Charakter dieses Junggesellen sich mit dem des Herrn Phileas Fogg in Einklang setzen werde, ein Urteil zu fällen, dürfte der außergewöhnlichsten Klugheit nicht möglich gewesen sein. Ob Passepartout sich als jener absolut pünktliche Lakai ausweisen würde, den sein Herr verlangte? Nur die Praxis konnte es lehren. Nach einer ziemlich landstreicherhaften Jugend sehnte er sich nach Ruhe. Da er vom englischen Methodismus und von der sprichwörtlichen Kalthaarigkeit der englischen Kavaliere viel Rühmens gehört hatte, war er darauf gekommen, in England sein Glück zu suchen. Aber bis auf den