Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
hatte auf der Eisenbahn gelegen — alles Dinge, die Passepartout nicht passen konnten. Sein letzter Herr war der junge Lord Longsferry, Mitglied des Parlaments, gewesen, der allzu oft von Polizisten auf den Schultern heimgeschleppt wurde, nachdem er in den Austernstuben von Haymarket dei Nacht durchgezecht hatte. Passepartout hielt vor allen Dingen auf Respekt vor seinem Herrn; deshalb nahm er sich ein paar respektvolle Bemerkungen heraus, die aber sehr übel aufgenommen wurden, und das führte zum Abbruch der Beziehungen. Unter der Hand erfuhr er, daß Phileas Fogg Esquire einen Lakaien suche. Er zog Erkundigungen über diesen Kavalier ein. Eine Herrschaft, deren Dasein sich mit solcher Regelmäßigkeit abwickelte, die keine Nacht außer dem Hause zubrachte, die nicht auf Reisen ging, die niemals auf Abwege geriet und sich im ganzen Jahr keinen einzigen Tag aus London entfernte, mußte Passepartout wohl oder übel recht sein. Er meldete sich zu der Stelle und wurde unter den dem Leser bekannten Bedingungen angestellt.
Passepartout befand sich also, als es halb zwölf geschlagen hatte, allein in dem Hause in der Saville-Row und unternahm alsbald eine Musterung desselben. Er durchwanderte es vom Keller bis zum Boden hinauf. Dieses saubere, ordentliche Haus, in welchem eine puritanische Strenge herrschte und alles vortrefflich eingerichtet war, gefiel ihm außerordentlich. Es machte ihm den Eindruck eines schönen Schneckengehäuses, aber eines solchen, das brillant erleuch tet und mit Gas geheizt war, denn damals genügte Kohlenwasserstoff für alle Bedürfnisse an Licht und Wärme. Passepartout fand ohne Mühe im zweiten Stock das für ihn bestimmte Zimmer. Es gefiel ihm. Elektrische Klingeln und akustische Leitungen setzten ihn mit den Gemächern des ersten Stocks und den Zimmern des Zwischenstocks in Verbindung. Auf dem Kamin stand eine elektrische Standuhr, die mit der Standuhr im Schlafgemach des Herrn Fogg übereinstimmte und auf die Sekunde genau die Stunden verkündete.
„So gefällts mir! So gefällts mir!“ sagte Passepartout.
Über der Standuhr in seinem Zimmer bemerkte er auch einen angehängten Zettel. Derselbe enthielt das Verzeichnis des täglichen Dienstes, und zwar von acht Uhr morgens, der Zeit, zu welcher Phileas Fogg regelmäßig aufstand, bis halb zwölf Uhr mittags, der Zeit, zu welcher er den Fuß aus dem Hause setzte, um sein Frühstück im Reform-Klub einzunehmen, alles bis auf die geringfügigste Einzelheit, was zu seinen Obliegenheiten gehörte, vom Tee und vom Röstbrot um 8 Uhr 23 Minuten bis zum Rasierwasser um 9 Uhr 37 Minuten, beziehungsweise zur Haarfrisur zwanzig Minuten vor zehn Uhr, und so weiter. Von halb zwölf Uhr vormittags bis Mitternacht — der Zeit, zu welcher sich der pünktliche Kavalier schlafen legte, war alles auf dem Zettel verzeichnet. Alles war vorgesehen. Alles war genau angegeben. Passepartout machte sich eine Freude daraus, dieses Programm zu studieren und sich die verschiedenen Paragraphen in seinen Geist einzuprägen.
Was die Garderobe des gnädigen Herrn betrifft, so war sie ganz vorzüglich ausstaffiert und mit Verständnis zusammengestellt. Jedes Beinkleid, jede Weste, jeder Frack trug eine Eingangs- und Ausgangsnummer in einem Konto, das genau darüber Aufschluß gab, an welchem Tage je nach der Jahreszeit die einzelnen Anzüge reihum getragen werden mußten. Für die Fußbekleidung bestand das gleiche Reglement.
Dies Haus in der Saville-Row — das zur Zeit des berühmten, aber unsoliden Sheridan als Tempel der Zuchtlosigkeit gegolten haben dürfte — wies ein Mobilar von äußerster Vornehmheit auf. Es bekundete auf den ersten Blick eine glückliche Situation und ein vernünftiges Temperament seines Besitzers. Kein Bücherschrank, keine Bücher, die für Herrn Fogg insofern ohne Nutzen gewesen wären, weil der Reform-Klub zwei Bibliotheken zu seiner Verfügung hielt, von denen eine sich aus den schönen Wissenschaften, die andere aus Rechts- und Staatswissenschaften zusammensetzte. In dem Schlafgemach stand ein eiserner Kasten von mittlerer Größe, dessen Bauart ihn vor Feuer und Einbruch sicherte. Keine einzige Hieb-, Stich- oder Feuerwaffe im ganzen Hause, keinerlei Jagd- oder Kriegsgeräte. Alles bekundete hier die friedfertigsten Gesinnungen und ruhigsten Gewohnheiten.
Drittes Kapitel,
worin sich eine Unterhaltung entspinnt, die Herrn Phileas Fogg leicht teuer zu stehen kommen kann
Phileas Fogg hatte sein Haus um halb zwölf Uhr verlassen. Nachdem er den rechten Fuß fünfhundertfünfundsechzigmal vor den linken und den linken fünfhundertsechsundsechzigmal vor den rechten Fuß gesetzt hatte, langte er im Reform-Klub an, einem Bauwerk von geräumigen Verhältnissen, das in der Pall-Mall mit einem Aufwande von nicht weniger als drei Millionen aufgeführt worden war.
Phileas Fogg verfügte sich alsbald nach dem Speisesaal, dessen neun Fenster auf einen schönen Garten hinaus sahen; die Bäume zeigten schon die goldige Färbung des Herbstlaubes. Dort nahm er an seinem Stammtische Platz, wo sein Gedeck schon seiner wartete. Sein Frühstücksmahl setzte sich aus einer Vorspeise zusammen, gesottenem Fisch in „Reading Sauce“, worauf es Roastbeef mit Steinpilzen, dann Backwerk mit Stachelbeer- und Rhabarberfüllung, zuletzt Chesterkäse gab. Dazu Tee von ausgezeichneter Qualität, der für die Küche des Reform-Klubs besonders geerntet und direkt aus dem Ursprungslande verfrachtet wurde.
Um 12 Uhr 47 Minuten stand der Kavalier auf und lenkte seine Schritte nach dem großen Salon, einem verschwenderisch eingerichteten, mit Gemälden in wertvollen Rahmen reich geschmückten Raume. Dort reichte ihm ein Diener die noch nicht aufgeschnittene „Times“. Phileas Fogg bewirkte die mühsame Verrichtung des Aufschneidens der großen Blätter mit einer so sicheren Hand, daß man ohne weiteres die Überzeugung gewann, daß er diese Verrichtung schon lange Zeit gewohnt war. Mit der Lektüre dieses Journals befaßte sich Phileas Fogg bis um 3 Uhr 45 Minuten, und die darauf folgende des „Standard“ dauerte bis zum Diner. Diese Mahlzeit vollzog sich unter den nämlichen Bedingungen wie das Frühstück; an der Stelle der „Reading-Sauce“ trat hier die „Royal British Sauce“.
10 Minuten vor 6 Uhr erschien der Kavalier wieder im Salon und vertiefte sich in die Lektüre des „Morning-Chronicle“.
Eine halbe Stunde später kamen verschiedene Mitglieder des Reform-Klubs in den Salon und stellten sich an den Kamin, in welchem ein Steinkohlenfeuer brannte. Es waren die Whistkollegen des Herrn Fogg, die gleich ihm zu den passionierten Freunden dieses stillen Spieles zählten. Zu ihnen gehörte der Ingenieur Andrew Stuart, die Bankiers John Sullivan und Samuel Fallentin, der Bierbrauer Thomas Flanagan, der zum Vorstande der Bank von England gehörige Walter Ralph — durchweg reiche und angesehene Personen, sogar in diesem Klub dafür gehalten, der zu seinen Mitgliedern die Spitzen der Industrie- und Finanzwelt zählte.
„Nun, Ralph“, eröffnete Thomas Flanagan die Unterhaltung, „wie stehts denn mit der betreffenden Diebstahlsgeschichte?“
„Hm“, versetzte Andrew Stuart, „die Bank wird um ihr Geld kommen.“
„Ich hoffe im Gegenteil“, nahm Walter Ralph das Wort, „daß wir den Urheber des Diebstahls fassen werden. Es sind Polizeikommissare nach Amerika und nach Europa geschickt worden, sehr gewandte Leute, nach allen wichtigen Einschiffungs- und Landeplätzen; es dürfte dem fraglichen Musjö also schwer werden, zu entschlüpfen.“
„Aber besitzt man denn das Signalement des Spitzbuben?“ fragte Andrew Stuart.
„Erstlich einmal ist’s gar kein Spitzbube“, versetzte mit großem Ernst Walter Ralph.
„Wieso? Ein Mensch, der fünfundfünfzigtausend Pfund in Banknoten entwendet hat, ist kein Spitzbube?“
„Nein“, versetzte Walter Ralph.
„Also ein Industrieritter?“ bemerkte John Sullivan.
„Im Morning Chronicle wird versichert, er sei ein Kavalier!“
Diese Äußerung wurde von keinem geringeren gegeben als von Phileas Fogg, dessen Haupt nun aus der ihn umflutenden Papiermasse herauftauchte. Phileas Fogg begrüßte seine Mitspieler, die seinen Gruß erwiderten.
Der Fall, von dem hier die Rede war, und den die verschiedenen Zeitungen des Vereinigten Königreiches mit Eifer erörterten, war vor drei Tagen, am 29. September, geschehen. Ein Bündel Banknoten, das die ungeheure Summe von 55.000 Pfund ausmachte, war vom Tische des Hauptkassiers der Bank von England gestohlen worden.
Allen gegenüber, die ihre Verwunderung darüber aussprachen, wie sich ein solcher Diebstahl so leicht