Der Untertan. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
ohne Ende. Diederich glaubte, was er sagte. Im Grunde wusste er wohl, dass er bestimmt sei, zu arbeiten und ein praktisches Leben zu führen, ohne viel Muße für Überschwenglichkeiten. Aber was er hier sagte, war von einer höheren Wahrheit als alles, was er wusste. Der eigentliche Diederich, der, der er hätte sein sollen, sprach wahr. – Aber Agnes: wie sie nun aufstanden und gingen, war sie blass und schien müde. Ihre schönen blonden Augen hatten einen Glanz, der Diederich beklommen machte, und sie fragte leise und zitternd:
»Wenn unser Kahn nun umgeschlagen wäre?«
»Dann hätte ich dich gerettet!« sagte Diederich entschlossen.
»Aber es ist weit vom Ufer, und das Wasser ist schrecklich tief.«
Da er ratlos war:
»Wir hätten ertrinken müssen. Sag’, wärst du gern mit mir gestorben?«
Diederich sah sie an; dann schloss er die Augen.
»Ja«, sagte er mit einem Seufzer.
Nachher aber bereute er ein solches Gespräch. Er hatte wohl gemerkt, warum Agnes plötzlich in eine Droschke steigen und heimfahren musste. Sie hatte krampfhafte Röte bis in die Stirn gehabt, und er sollte nicht sehen, wie sie hustete. Den ganzen Nachmittag bereute Diederich nun. Solche Sachen waren ungesund, führten zu nichts und machten Ungelegenheiten. Sein Professor hatte schon von den Besuchen der Dame erfahren. Es ging nicht länger, dass sie ihn wegen jeder Laune von seiner Arbeit wegholte. Er setzte es ihr schonend auseinander. »Du hast wohl recht«, sagte sie darauf. »Ordentliche Menschen brauchen feste Stunden. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kommen soll, und am meisten geliebt hab’ ich dich schon um vier?«
Er fühlte Spott heraus, vielleicht sogar Geringschätzung, und ward grob. Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wollte, könne er überhaupt nicht brauchen. So habe er sich die Sache nicht vorgestellt. Da bat Agnes um Verzeihung. Sie wollte ganz bescheiden werden und in seinem Zimmer auf ihn warten. Wenn er noch zu tun hatte, oh! er brauchte keine Rücksicht zu nehmen. Das beschämte Diederich, er ward weich und überließ sich, zusammen mit Agnes, den Klagen über eine Welt, in der es nicht nur Liebe gab. »Muss es denn sein?« fragte Agnes. »Du hast ein wenig Geld, ich auch. Warum Karriere machen und dich abhetzen? Wir könnten es so gut haben.« Diederich sah es ein – nachträglich aber nahm er ihr es übel. Nun ließ er sie warten, halb mit Absicht. Sogar den Besuch politischer Versammlungen erklärte er für eine Pflicht, die der Zusammenkunft mit Agnes vorangehe. Eines Abends im Mai, wie er verspätet heimkam, traf er vor der Tür einen jungen Mann in Einjährigenuniform, der ihn zögernd ansah. »Herr Diederich Hessling?« – »Ach ja«, stammelte Diederich, »Sie – du – Sie sind wohl Herr Wolfgang Buck?«
Der jüngste Sohn des großen Mannes von Netzig hatte sich endlich entschlossen, dem Befehl seines Vaters zu folgen und Diederich aufzusuchen. Diederich nahm ihn mit hinauf, er fand so schnell keinen Vorwand, um ihn zu entfernen, und drinnen saß Agnes! Im Flur sprach er laut, damit sie es höre und sich verstecke. Mit Bangen öffnete er. Im Zimmer war niemand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Diederich wusste wohl: sie war noch soeben dagewesen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fühlte es in der Luft, die noch leise zu schwingen schien vom Hindurchstreifen ihres Kleides. Sie musste in dem fensterlosen kleinen Gelass sein, wo sein Waschtisch stand. Er schob einen Sessel davor und murrte, unwirsch vor Verlegenheit, über die Wirtin, die nicht aufräume. Wolfgang Buck meinte, er komme wohl ungelegen. »O nein!« versicherte Diederich. Er lud den Gast zum Sitzen ein und brachte Kognak. Buck entschuldigte sich wegen der ungewöhnlichen Stunde; der Dienst lasse ihm keine Wahl. »Das kennen wir«, sagte Diederich; und um Fragen zuvorzukommen, berichtete er sofort, dass ein Jahr schon hinter ihm liege. Er sei begeistert vom Militär, es sei das Wahre. Wer ganz dabei bleiben könnte! Leider riefen ihn Familienpflichten. Buck lächelte, ein weiches, skeptisches Lächeln, das Diederich missfiel. »Nun ja, die Offiziere: man ist wenigstens unter Leuten mit guten Manieren.«
»Sie verkehren mit ihnen?« fragte Diederich, und er meinte es höhnisch. Aber Buck erklärte einfach, dass er zuweilen in die Offiziersmesse geladen werde. Er zuckte die Achseln. »Ich gehe hin, weil ich es für nützlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Andererseits verkehre ich viel mit Sozialisten.« Er lächelte wieder. »Manchmal möchte ich nämlich General werden und manchmal Arbeiterführer. Auf welche Seite ich schließlich fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig.« Und er trank das zweite Glas Kognak aus. »Ein ekelhafter Mensch«, dachte Diederich. »Und Agnes in der Dunkelkammer.« Er sagte: »Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag wählen zu lassen oder was Ihnen sonst Spaß macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemokratie betrachte ich übrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers.«
»Wissen Sie das ganz genau?« fragte darauf Buck. »Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe für die Sozialdemokratie zu. Er wäre gern selber der erste Arbeiterführer geworden. Sie haben nur nicht gewollt.«
Diederich empörte sich. Das sei beleidigend für Seine Majestät. Aber Buck ließ sich nicht stören. »Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärischen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, gerade solche Ranküne1 gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter – wenn auch natürlich aus abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, dass auch andere Macht haben.«
Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. »Glauben Sie bitte nicht«, sagte er lebhafter, »dass Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zärtlichkeit: eine Art feindlicher Zärtlichkeit, wenn Sie wollen.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Diederich.
»Nun ja: wie man sie für jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfindet, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, dass wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. Er jedenfalls möchte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoß gefallen ist, wäre es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu überschätzen. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet.«
»Rolle?« fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht.
»Denn die kann ihn weit führen, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt