Die kleine Stadt. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
Sehen Sie sich die Familien aller Barbiere der Stadt an: die Frau des Bonometti, des Druso, des Macola, oder meine eigene. Nein! die sehen Sie lieber nicht an. Ich selbst sehe sie gar nicht mehr an, aus Furcht, sie abzunutzen.“
Er riß den Mund bis ans linke Ohr hinauf, schwenkte Hut und Tasche und lief weiter.
Mitten im Gelächter gewahrte der Advokat das Stadttor, faßte sich und schlug einen seiner Rockflügel über das Netz mit Eiern. Er beeilte sich nicht sehr.
„Es ist immerhin besser, die Form zu wahren. Aber man kennt mich, und niemand würde wagen —“
Der Beamte des Stadtzolls legte zwei Finger an seinen Federhut; der Advokat sagte gnädig:
„Guten Tag, Cigogna.“
Und zu seinem Begleiter ein wenig von oben:
„Sehen Sie?“
Leise pfeifend zog er die Eier wieder hervor.
Aber in der Gasse wandten sich Leute nach ihnen um, und zwischen den zusammengelehnten Fensterläden sah der Advokat mehrmals aus weißen Gesichtern begierige Augen auf seinen Gefährten herablugen, der nicht den Kopf hob. Da nahm der Advokat den Arm des schönen jungen Menschen, sprach und lachte über ihn gebeugt und ganz mit ihm verbrüdert. Wie sie, am Ausgang nach dem Platz, die halbrunden Rathausarkaden abschritten, trat auf den Balkon des zweiten Stockwerkes sanft singend die junge Frau Camuzzi, hinter einem großen Fell, das sie ausgebreitet hielt und schüttelte. Sie ließ es sogleich sinken.
„O! entschuldigen Sie, Herr Advokat. Ich hatte Sie nicht gesehen.“
„Machen Sie nur! Es ist mir eine Ehre“, rief der Advokat zurück und sprang umher, um dem fliegenden Schmutz zu entgehen. Frau Camuzzi blieb über das Fell gebeugt, das nun auf dem Gitter lag, war errötet und sah unverwandt dem Begleiter des Advokaten in die Augen. Der Tenor zog den Hut. Sie dankte langsam und sehr ernst. Der Advokat schnaubte nach dem Staube, durch den er gekommen war. Bevor sie das Café erreichten, blieb er nochmals stehen und flüsterte, Takt schlagend:
„Überlegen wir ein wenig: wäre es nicht eine wahre Schande, wenn ein Ignorant wie der Camuzzi eine solche Frau hätte, ohne auf die Dauer von ihr betrogen zu werden? Aber so sind nun die Frauen: gerade diese ist die treueste von allen.“
In diesem Augenblick erschien hager, in Weiß wie gestern und mit noch dickeren Säcken unter den Augen als gestern, der alte Tenor Giordano im Tor des Rathauses und hob langsam, damit der Brillant Zeit zu funkeln habe, die Hand an den Hut.
„Ah! Cavaliere.“
Der Advokat stürzte sich auf ihn. Er keuchte am Ohr des Alten:
„Sie haben das Glück, Cavaliere, bei einer unserer hübschesten Frauen zu wohnen. Von einem Manne wie Sie erwartet man, daß er solch Glück nicht ungenützt vorbeiläßt! Alle Augen sind auf Sie gerichtet!“
Der Alte winkte leichthin, als seien so viele Worte nicht nötig, — aber der Advokat legte, zurückweichend, den Kopf in den Nacken.
„Ist es möglich! Was ist das, was bedeutet das!“
„Wissen Sie das nicht?“ fragte der Cavaliere Giordano. „Eine Bogenlampe.“
„Ich sehe es zu gut,“ sagte der Advokat dumpf, „eine Bogenlampe. Aber eine Bogenlampe, mein Herr, die ohne mein Wissen hier aufgestellt ist. Es muß über Nacht geschehen sein, und ich erkenne in diesem Streich die Hand des Camuzzi. Er hat den Augenblick benutzt, wo ich mich der Kunst widmete. Ein öffentlicher Mann, mein Herr, ein Staatsmann kann nicht wachsam genug sein.“
Aus der Gasse der Hühnerlucia kam, festen Schrittes und eine Hand in der Hosentasche, der Bariton Gaddi. Untersetzt pflanzte er sich bei den andern auf und sagte mit seiner ehernen Stimme:
„Wir sind doch wohl die ersten? Nello natürlich infolge eines Abenteuers, ich, weil mir meine Familie keine Ruhe läßt, — und im Alter des Cavaliere schläft man nicht mehr lange.“
Der alte Giordano zog eine Grimasse. Gaddi erhob sein massiges Cäsarenprofil zu den Gebäuden ringsum und erklärte die Stadt für interessant. Der Advokat Belotti beschwor die Herren, sich von ihm umherführen zu lassen: sie würden es nicht bereuen, er sei Spezialist für die Geschichte der Stadt, und das Material zu einem ungeheuren Werke liege seit zwanzig Jahren in seinem Schreibtisch.
Zuerst las er den drei Komödianten die lateinischen Inschriften vor, die auf alten Marmorbrocken in der Fassade des Rathauses staken. Um eine hoch angebrachte lesen zu können, mußten sie einem Burschen, den der Advokat herbeirief, auf die Schultern klettern. Auch von dem alten Giordano verlangte Belotti es und machte eine erstaunte Pause, als der Greis sich weigerte. Die Stadt hatte ältere Ursprünge als Rom! Jahrhundertelang hatte ein Venustempel ihren Platz eingenommen.
„Ihren ganzen Platz! Denn das unsere war eins der größten Heiligtümer der Göttin, aus ganz Italien strömten ihre Verehrer herbei.“
Die drei horchten auf. Der Bariton bemerkte:
„Das muß ein glänzendes Geschäft gewesen sein.“
„Ah!“ machte der Advokat entzückt und klagend, als habe er den Verfall der Zeiten miterlebt. „Das war etwas anderes als jetzt, wo die Stadt eine kleine Einnahme —“
Mit der Hand am Munde:
„— nur aus dem Hause in der Via Tripoli bezieht.“
Die drei nickten stumm.
„O, eine elende Kleinigkeit! Damals aber: stellen Sie sich, meine Herren, in den Gärten, die diese ganzen Hänge bedeckten, das Heer der Priesterinnen vor!“
Allen drei war anzusehen, daß sie sich die Priesterinnen vorstellten. Nello Gennari hatte erweiterte Augen und einen bitteren Mund.
„Bis nach Villascura dehnten ihre Wohnungen sich aus. Ja, wir haben Beweise dafür, daß gerade in Villascura die Häuser der vornehmsten von jenen Damen standen.“
Er kicherte heiser, der Cavaliere Giordano meckerte ein wenig, Gaddi lachte ehern. Der junge Tenor biß sich auf die Lippe und sah zu Boden.
„Nun sind Sie also darüber unterrichtet,“ setzte der Advokat noch hinzu, „von welchen talentvollen Müttern unsere Frauen abstammen.“
Darauf führte er seine angeregten Zuhörer in den Hof des Rathauses, zu der Madonna des Valvassore.
„Unser großer Cinquecentist hat sie seiner Heimatstadt geschenkt. Beachten Sie die Feinheit des Kolorits!“
Aber so viele Wachskerzchen der Advokat entzündete, die Fremden sahen hinter dem Drahtgitter nur etwas Schwarzes, Brüchiges. Bevor ihre Stimmung sinken konnte, drang er darauf, ihnen den hölzernen Eimer zu zeigen, den die Bürger der Stadt vor dreihundert Jahren denen von Adorna geraubt hatten. Ein mächtiger Krieg war deswegen zwischen den beiden Städten entbrannt. Beide hatten Blut und Wohlstand an diesen Eimer gesetzt. Die Götter, hieß es, hatten, unter die Heere der beiden Städte verteilt, um ihn mitgekämpft.
„Und wir, denen Pallas Athene half, haben ihn behalten, und er hängt in unserem Glockenturm“, schloß der Advokat. „Sie werden sehen, Sie werden sehen!“
Er hastete ihnen voran über den Platz. Am Pfahl der Bogenlampe stieß er sich heftig und sah voll Zorn hinauf.
„Sie steht an einer falschen Stelle. Ich würde sie nicht dorthin gestellt haben!“
Als sie drüben waren, zögerte er, wandte sich halb um und wisperte:
„Im Winkel neben dem Turm das schwarze Haus: sehen Sie nicht hin, ich beschwöre Sie, wir werden beobachtet.“
Er zog sie um die Ecke des Turms und sagte jedem einzeln ins Ohr:
„Dort hinten ist eine unserer größten Merkwürdigkeiten, das Geheimnis der Stadt, etwas Unerklärliches: ein Wunder, würden die Fanatiker sagen.“
Und er berichtete von Evangelina Mancafede, die seit neun Jahren nicht ausgegangen war, aber alles in der Stadt sah und wußte.