Die kleine Stadt. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
mit tief gesenkten Lidern vorüber. Italia sah ihr voll Spannung und Unterordnung nach.
„Ist das die Dame, die ausspie?“ flüsterte sie. „Und warum spie sie vor mir aus?“
„Auch ich bin beleidigt“, sagte der alte Giordano dumpf und grübelte, wieder ganz in Falten, vor sich hin.
Nello Gennari fuhr zusammen, als erwachte er, und starrte irgendeinen an.
„Hier ist jemand, der alles weiß. Alles, versteht ihr? Ist das nicht schrecklich?“
„Ich hatte es vergessen“, sagte der alte Giordano schaurig. „Mein Gedächtnis! Aber jetzt erkenne ich, woher hier das Unglück kommt. Dort im Winkel hinter dem Turm —“
Er zwang Italia, in seine aufgerissenen Augen zu sehen, und wies mit dem Daumen rückwärts. Der Advokat machte leise „Sst“. Polli raunte:
„Man sieht nicht hin.“
„Das ist doch schrecklich, immer solche Augen einer Unsichtbaren auf sich zu haben“, wiederholte Nello Gennari, den Blick gesenkt. Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand.
„Ich sage nicht, daß es eine große Annehmlichkeit ist.“
„Was gibts? O was habt ihr?“ — und Italia hatte den Handrücken am Munde.
„Du hast Hornbreloques, Gaddi?“ fragte der alte Tenor. „Man sollte sie nie ablegen.“
Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.
„Was gibts, mein Gott?“ flehte Italia. „Ich will fort.“
„Was denn“, machte der Advokat. „Wir leben doch alle hier, und es tut uns nichts. Es ist ein Mädchen, das seit neun Jahren, ohne krank zu sein, das Haus nicht verläßt und dennoch alles weiß, was geschehen ist, und zuweilen auch, was noch nicht geschehen ist . . .“
„Man muß zugeben,“ — und der Gemeindesekretär lächelte spöttisch, „daß es ein wenig unheimlich sein mag, wenn man es noch nicht gewohnt ist.“
„Ich will fort.“
Italia stieß ihren Stuhl zurück. Der Advokat packte sie an und drückte sie auf den Sitz.
„Sie, eine Künstlerin, wollten fliehen vor einer einfachen Erscheinung der menschlichen Natur?“
„Nun, einfach —“ meinte der Sekretär. Italia sah, umklammert vom Advokaten, nach Hilfe umher.
„Darum bin ich beleidigt worden“, begann wieder der alte Giordano. „Ich, der seit fünfzig Jahren —“
„Hat darum jene Dame vor mir ausgespien?“ fragte Italia erleuchtet.
„Aber die Wissenschaft —“ hob der Advokat an.
„Wer ist also noch sicher!“ rief Nello Gennari, sprang auf und machte, die Arme verschränkt, eine stürmische Runde um den Tisch. „Sie weiß,“ dachte er in plötzlichem Erkennen, „wo ich die Nacht war und daß ich Alba liebe! Ich wollte eher tot sein, als ein menschliches Wesen im Besitz meines Geheimnisses sehen. Sie aber hat es: schon gestern wußte sie den Namen! — und kann mich verraten. Ich lebe von ihrer Gnade, wie ist das zu ertragen!“ Er setzte sich wieder und nahm die Stirn in die Hände.
„Die Wissenschaft wird —“ sagte der Advokat. Der alte Giordano hob plötzlich die Arme und riß die Luft in seinen offenen Mund hinein.
„Und meine Prophezeiung! Diese Stadt hat weniger als hunderttausend Einwohner, und ich bin umgeben von Geheimnis. Ich werde hier sterben.“
„Ja, man muß vorsichtig sein,“ — und der Bariton drehte unerschüttert an seinen kleinen Hörnern. Der Alte schrumpfte zusammen. Der Advokat bekam unversehens eine Art Anfall. Er zuckte wild mit den Schultern, seine Handrücken taten kleine krampfige Schläge in die Luft, die Adern schwollen ihm, und seine Augen waren die eines Erstickenden.
Plötzlich stand der Kapellmeister Dorlenghi am Tisch und sagte, rasch atmend:
„Wenn es den Herren gefällt, zur Probe!“
Niemand antwortete ihm. Italia zerrte ihr Taschentuch durch die Zähne, der alte Giordano sah entrüstet weg. Dann nahm der Advokat das Wort.
„Guten Tag, Dorlenghi, setzen Sie sich!“
„Verlieren wir keine Zeit, ihr Herren! Diese elende Schule hat mich lange genug aufgehalten. Denn ich bin ein kleiner Dorfmusiker und muß die Kinder singen lehren. Kommen Sie!“
Da nichts sich regte, fragte er, stockend und erblaßt:
„Aber was ist geschehen? Ich verstehe nicht —“
Der Advokat fuchtelte verzweifelt. Auf einmal klappte er die Arme herunter und sagte leichthin:
„Sie wollen nicht, Dorlenghi. Diese Herren haben den Plan gefaßt, abzureisen.“
„Ach ja, abreisen!“ — und Italia nickte fliegend und verzerrt, als sei sie von Schlangen umwickelt.
„Auch ich reise“, sagte der alte Giordano. „Ich will hier nicht sterben.“
Der Kapellmeister griff nach einem Stuhl und griff daneben. Der Advokat fing ihn auf und setzte ihn hin.
„Mut, Dorlenghi! Auch mir ist dieser Zwischenfall peinlich; aber was wollen Sie? Künstler sind Launen unterworfen, das wußten wir. Wer das Genie will, muß auch die Launen wollen.“
„Immerhin,“ meinte der Bariton, der seine Anhängsel sorgfältig geprüft hatte, „es wird vielleicht besser sein, wir reisen.“
Nello Gennari nahm die Stirn aus den Händen; er hatte einen wirren, ringenden Blick; — schüttelte, die Lider eindrückend, langsam und stark den Kopf und ließ die Stirn zurückfallen.
„Sie scherzen“, brachte der Kapellmeister hervor und lächelte wie eine Puppe. „Ein gelungener Scherz. Aber sollten wir nicht gehen? Es wird spät und zum Theater ists weit.“
„Es ist Ernst, mein armer Dorlenghi,“ — und der Advokat klopfte ihn. „Unsere Künstler fürchten sich vor der Unsichtbaren dort hinten. Sehen Sie nicht hin! Und schließlich, wer weiß; Gründe gibt es für alles; und selbst ich, Maestro, frage mich —. Denn, sagen wir die Wahrheit! die merkwürdigen Dinge häufen sich ein wenig. Warum mußte mir Don Taddeo just heute die Ungelegenheit mit dem Schlüssel bereiten? Überdies hatte ich vergessen, daß der Frau des Wirtes Malandrini, ja, der Ersilia Malandrini, letzte Nacht der Geist ihres Vaters erschienen ist.“
Italia begann wild zu lachen. Alle sahen sie entsetzt an.
„Ein Geist?“ fragte sie.
„Gewiß, ein Geist, Fräulein“, bestätigte der Advokat ernst. „Denn ich gehöre nicht zu denen, die die Seele leugnen. Ich bin kein Feind der Religion, nur ein Gegner der Priester.“
„Aber solch ein Geist, o, solch ein Geist —“ und Italia schüttelte sich.
„Eine Frau ohne Religion liebe ich nicht“, bemerkte der Apotheker Acquistapace mit seiner biederen Stimme. Sie war unvermittelt still und sah ihm gesetzt und treu in die Augen.
„Das Fräulein lacht! Sehen Sie, daß sie lacht?“ wiederholte der Kapellmeister noch immer. Er war auf den Beinen, in seiner zarten Haut sah man die Röte bis unter die blonden Kinnhaare fließen, und er sagte mit einer Stimme, die aus dem Tiefsten bebte:
„Ich habe es gewußt, Sie würden mich nicht im Stich lassen. Wo bleibt das Fräulein Flora Garlinda?“
„O,“ machte Gaddi, „auf die können Sie zählen, Maestro, die singt: auch allein, ohne uns, und kein Unglück, böser Blick oder Geist hält sie ab, denn sie glaubt an nichts.“
„Also gehen wir voran! Das Klavier ist oben,“ — und er wies nach der Treppengasse; „ich habe große Mühe damit gehabt, bis es oben war . . . Wie? Meine Herren, ich bitte Sie, ich bitte Sie.“
„Es