Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
— und inzwischen sammelte sie Anhängerinnen, denen sie den Ton angab, denen sie half, am Sonntag, bei den lebenden Bildern, in Kostümen und Kunst der Stellung die andern zu besiegen. Die Pension spaltete sich; die eine der Parteien scharte sich um Jenny, die andere um Lola, und jede warb mit Leidenschaft um die draußen wohnenden Schülerinnen. Erbitterte und wortlose. Kämpfe wurden bestanden. Einmal ward das Ziel des Ehrgeizes darin entdeckt, als erste beim Frühstück zu sein; aber mochten Jennys Freundinnen bei kaum grauendem Tag hinabschleichen: Lola mit den Ihren saß doch schon am Tisch. Am Abend hatte sie von sich zu den andern, unter den Stubentüren hindurch, einen Bindfaden geleitet. Jede war mit der Nächsten verbunden; regte sich eine, erwachten alle; und geschlafen hatte keine. Dafür genoß man nun Triumphgefühle, die einen sprengten.
Zu Lolas Hochgefühl wirkte Verachtung mit. Sie übte ihre Macht als Parteiführerin und dachte dabei: „Was ihr alle mich angeht! Wie lange dauert dies überhaupt noch! In vierzehn Tagen ist Pais Brief da!“ Manchmal sah sie Erneste an, die nichts ahnte, und konnte ihr Frohlocken kaum niederringen. Einmal verriet sie sich. Am Sonntag nachmittag hatte Jenny gesungen: etwas peinlich Sentimentales, wobei sie himmelte und die Fingerspitzen auf die Brust setzte. Lola rief aus tiefster Seele:
„Das ist aber über alle Maßen geschmacklos!“
Jennys Anhängerinnen gaben dies nicht zu; nicht einmal unter ihren eigenen waren viele der Meinung Lolas. Die Tochter eines Reichstagsabgeordneten sagte:
„Es war so deutsch.“
„Es war geschmacklos!“ stieß Lola hervor. „Wenn es deutsch war, dann war es eben eine deutsche Geschmacklosigkeit!“
Darauf ward es still; und wie Lola sich bei den Ihren nach Beistand umsah, wichen die Blicke ihr aus, und die Schultern drehten sich hin und her, bis sie aus Lolas Nähe waren. Drüben versetzte eine spitz:
„Du bist eben eine Brasilianerin!“
„Wenn sie das noch wäre,“ entgegnete die Tochter des Abgeordneten. „Aber sie ist nichts: sie ist —“
Mit gekrümmten Lippen, die das Wort unter Selbstüberwindung hervorbrachten:
„International!“
Der Ekel im Gesicht der Sprechenden steckte alle übrigen Mienen an; und als habe man neben sich eine Schande, wandte man sich schweigend zu etwas Anderem. Ein Dienstmädchen trat ein:
„Fräulein Lola, ein Brief für Sie!“
Von Pai! Lola stürzte damit hinaus, schloß sich ein. Sie zitterte; und im jähen Gefühl, in einer äußersten Minute ihres Schicksals zu stehen, murmelte sie: „Mein Gott! Mein Gott!“
Dann erfuhr sie:
„Meine liebe Tochter! Deine Nachrichten habe ich erhalten und ihnen zu meinem Bedauern entnommen, daß die dortigen Verhältnisse Dir nicht mehr so zuzusagen scheinen, wie ich gewünscht und erwartet hätte. Es ist jederzeit für uns von Nutzen, unserer Umgebung Wohlwollen entgegenzubringen; um so mehr aber erscheint dies geboten, wenn wir, menschlicher Berechnung nach, einen großen Teil unseres Lebens am fraglichen Platze verbringen werden. Übrigens denke ich mich in einiger Zeit persönlich nach Dir umzusehen und verspreche ich mir von diesem, nicht durch meine Schuld so lange verschobenen Wiedersehen eine bedeutende Genugtuung. Somit halte ich ein Herkommen deinerseits zurzeit nicht für angezeigt. Du darfst versichert sein, daß wir nicht mehr allzu lange getrennt bleiben werden, und daß, wenn ich einst in der Lage sein werde, meinen Wohnsitz ganz nach dort zu verlegen, auch Deine Mutter mit hinüberkommen wird. Deine Mutter grüßt Dich, kann Dir jedoch das gewünschte Bild nicht schicken, da sie sich neuerdings auf keiner Photographie mehr getroffen findet.“
„Über das, mein liebes Kind, was wir im Leben sein werden, entscheidet das Blut, welches wir bei unserer Geburt mitbekommen. Unter einem nicht blutsverwandten Volk werden wir uns niemals vollkommen wohl und heimisch fühlen. In Dir, meine Tochter, fließt, wie ich hoffe und glaube, ein vorwiegend deutsches Blut, und als deutsches Mädchen gedenke ich Dich dereinst wiederzufinden. Es wird Deine Aufgabe sein, Dich dort mehr und mehr heimisch zu machen.“
„Nimm diese Worte von Deinem Vater mit Liebe auf. Es ist und kann ja nur mein einziger Wunsch sein, Dich glücklich und zufrieden durchs Leben schreiten zu sehen.“
Lola war fertig und nahm doch das Blatt nicht von den Augen. Kein Bild von Mai: nicht einmal das! Nicht nach Hause, kein Bild, kein gutes Wort. Denn diese alle hörten sich hart und verständnislos an. Sich heimisch machen! Hier, wo sie noch soeben beschimpft und geächtet war! Pai wußte nichts; niemand wollte etwas wissen von Lola. Alles aus, alles aus.
„Was ist dir?“ fragte, als es zum Essen geläutet hatte, teilnahmsvoll Erneste. „Du hast doch keine schlechten Nachrichten von den Deinen?“
„O nein, es geht ihnen gut; aber mir selbst ist nicht wohl.“
Sie bekam die Erlaubnis, sich sogleich niederzulegen, und war froh, als der Arzt ein wenig Fieber feststellte. Im Bett bleiben, niemand sehen, nur nicht den Blicken der Fremden ausgesetzt sein. Lola fühlte gar keinen Mut, sich zu behaupten. Wie sie, drei Tage später, sich wieder zeigte, genoß sie die Vorrechte der Genesenden, durfte schweigen und Launen nachgeben. Sie saß bleich und schwach da, und anstatt einer Lehrerin zu antworten, musterte sie sie, als erblickte sie sie zum erstenmal. Was für ein Gesicht war doch dies; wie viel Unschönes enthielt es! Diese immer geärgerten Augen, die gelben Schläfen, die kleinlichen Falten, die den Mund zerkniffen! Vor Lolas starrem Blick ward es älter, immer älter und endlich zur Mumie. Erschreckt riß sie sich los. Wenig später aber sah sie sich im Gesicht einer rezitierenden Mitschülerin fest, dessen Leere sich Lola plötzlich auftat wie ein Abgrund.
Das ward zur Sucht. Sie las aus einem der vielen Gesichter, die ihr jetzt abstoßend schienen, alle in der Familie möglichen Abweichungen des Typus heraus, und ward bedrängt von Fratzen. Die Dummheit oder Gewöhnlichkeit gewisser Züge überwältigte sie täglich wieder, wuchs ihr entgegen, wie eine Sonne, in die man fällt. Lola atmete dann kürzer und meinte zu verblöden.
Sie bekam einen quälend feinen Sinn für das Alberne eines Tonfalls und das Untergeordnete einer Gebärde. Sie frohlockte und litt bei jeder Geschmacklosigkeit, die jemand beging. Sie legte eine Liste der Armseligkeiten an, die um sie her geschahen und geredet wurden, und las darin mit bitteren Rachegefühlen. So waren ihre Feindinnen! Denn Lola war überzeugt, daß alle sie haßten, und sie erwiderte es ihnen. Aus jeder Gruppe von Mädchen glaubte sie ihren Namen zu hören; sie trat herzu: „sprecht weiter, bitte“; und ihre Stimme, die sie aus ihrer Einsamkeit unter die Feinde schickte, wollte höhnisch sein und war unsicher. Eines Abends beim Teemachen explodierte die Spiritusmaschine und überschüttete Lola mit blauen Flämmchen. Während sie noch mit einer Serviette ihr Kleid abtupfte, rief sie schon:
„Das warst du, Berta! Du wußtest wohl, daß ich heute an der Reihe war, Tee zu machen: eigens deswegen hast du vorher aufgegossen und hast den Docht falsch eingeschraubt!“
„Um des Himmels willen, Lola, ich habe dich doch nicht verbrennen wollen!“
„Wer hat mir neulich die glühend heiße Schüssel in die Hand gegeben?“
„Ich wußte es doch nicht! Auf der andern Seite war sie kalt!“
Das gutmütige Mädchen weinte fast. Erneste bemerkte kummervoll:
„Du bist mißtrauisch, Lola: das ist keine schöne Eigenschaft.“
Lola war mißtrauisch, weil sie sich verraten fühlte. Sie war empfindlich, weil sie allein und immer auf der Wacht war. Andere hatten Stützen: das Ansehen eines Vaters, einen Namen, jemand der sie besuchte. Eine kleine plumpe Person mit Eulenaugen und Brillen davor, ging, so oft sie sich irgendwie blamiert hatte, umher und wiederholte: „Ich habe das Wörtchen von. Du hast es nicht, ich aber habe es.“ Lola suchte vergeblich nach einer Rache dafür. Da aber begegnete ihr in der Zeitung, daß der Reichstagsabgeordnete, der Vater ihrer ärgsten Feindin, Bankerott gemacht habe. Das Herz klopfte ihr bis an den Hals vor Freude. War’s eine Schande, „international“ zu sein, war’s hoffentlich auch eine, Bankerott zu machen! Mit dem Zeitungsblatt lief Lola von einer zur andern, gefolgt von