Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
und auch, weil das Kind groß ward und es nicht mehr lange dauern konnte, bis man es ihr wegnahm. Vorher noch eine Zeitlang es ganz für sich haben, noch einmal so vertraut mit ihm leben wie einst, als es klein war: danach hatte Erneste sich gesehnt. Nun aber saß sie meist allein, immer in der Stube, bei dem ewigen Regen hier im Gebirge, und Lola hatte noch nie daran gedacht, ihr Gesellschaft zu leisten. „So junge Menschen sind zu sehr mit sich beschäftigt und sehen in andere nicht hinein. Daß sie wegläuft, ist kein Mangel an Zartgefühl, bewahre. Warum kann ich ihr nicht sagen, wie gern ich mit ihr beisammen wäre? Es ist meine Schuld.“ Dabei errötete Erneste, sogar hier im verschwiegenen Zimmer.
Wieviel verschämtes Leid hatte ihr die Liebe zu diesem Kinde bereitet! Bis in das erste Jahr zurück wußte sie noch alle Strafen, die sie Lola hatte erteilen müssen: so schwer waren sie ihr geworden. Schmerzensworte, zornige Ausrufe der Kleinen, die Lola selbst längst vergessen hatte, fielen Erneste oft wieder ein, und noch immer erschrak sie darüber. War sie nicht zart genug gewesen mit dem einsamen Kinde? Wohl hatte sie es über die empfangenen Strafen zu trösten gesucht: indem sie ihm das Fleisch, das es nicht gern aß, wie einen Kuchen herrichtete; oder dadurch, daß der Spitz Ami, der Lola angeknurrt hatte, vor ihr schön machen mußte. Ami war nun tot: Alles war verändert. Nie mehr saß Lola wie damals, als sie noch nicht Deutsch konnte, zu Ernestes Füßen und gab ihr die wenigen Worte, die sie kannte, als Schmeichelnamen. Nie mehr schlüpfte sie am Morgen zu Erneste ins Bett und weckte sie mit einem Gedicht, daß die Anrede „Herzmama“ enthielt! „Wenn die Kinder klein sind, brauchen sie uns.“ War das wirklich alles in der Liebe der Kinder? Nein, nein! Und doch war Erneste von einer verdrießlichen Ahnung erfaßt worden, als eines Tages Lola nicht mehr unter ihrem wagerecht ausgestreckten Arm stehen konnte.
Ganz leicht machte nun die Herangewachsene sich los: so leicht, als habe sie sich innerlich nie bei Erneste gefühlt! Zwar durfte man nicht ungerecht werden: sie hatte das Leben vor sich und wandte sich ihm zu; und dann war wirklich viel Fremdes in ihr, das man nicht begriff, und das einem Sorge machen konnte. Schon immer war Erneste ängstlich berührt, beinahe eingeschüchtert worden durch die Anzeichen der fremden Herkunft bei Lola. Die auffallenden Äußerungen des Kindes zuerst, seine eigenartigen Vergehen, und daß es eigentlich niemals Kameraden gehabt hatte. Dann seine etwas frühen kleinen Verliebtheiten; nun, sie waren schwärmerisch und rein und mochten hingehen. Endlich aber diese schlimme Lust nach dem Theater: o, etwas ganz Schlimmes war da in Lola entstanden, aus Keimen, die Erneste trotz aller Pflege dieser Seele nicht hatte ersticken können. Wie unheimlich ihr’s damals zu Mut gewesen war! — und wie kummerschwer sie nun die Entfremdung zwischen ihnen beiden wachsen und die Trennung sich nähern sah!
„Warum ist sie so? Was hat sie mir vorzuwerfen? Denkt sie doch noch ans Theater?“ Auch andere Mädchen in Lolas Alter und gerade die Besseren, wußte Erneste, hatten ihre scheuen und eigenwilligen Zeiten, standen immer im Begriff, in Ohnmacht zu fallen — dies geschah Lola nie —, waren schwach, erregbar und tief. Lola aber war gar zu unergründlich, und in ihrer Verschlossenheit spürte man etwas Bitteres, Feindseliges. Hatte sie zu klagen: warum eröffnete sie sich nicht ihrer alten Freundin? „Früh genug bleiben wir allein im Leben. Noch hat sie eine, der sie alles ist. Aber die Jugend trumpft auf ihre Selbständigkeit. Später wird sie an mich denken.“ Gereizt vom einsamen Grübeln, war Erneste nahe daran, Lola ein recht schlimmes Später zu wünschen, damit sie an sie denke. Dann wurden Lolas Schritte vernehmlich, und noch bevor sie in der Tür stand, hatte Erneste ihr alles abgebeten.
„Bist du nun genug umhergelaufen?“ fragte sie munter. „Setzt du dich nun gemütlich zur alten Erneste?“
Dabei stellte sie sich ganz mit ihrer Häkelei beschäftigt und sprach nur in Pausen.
„Weißt du wohl, woran ich eben erinnert wurde? An das seidene Kleidchen, in dem du damals aus Amerika kamst. Dies da hat eine ähnliche Farbe, und die Ärmel sind auch wieder so. Was alles zwischen den beiden Kleidern liegt, nicht?“
Lola sah mit einer Falte zwischen den Augen vom Buch auf, wartete, was sie solle, und las weiter.
„Du kamst zu einer Zeit, als ich sehr einsam und traurig war,“ sagte Erneste nach einer Weile.
„Beliebt?“ fragte Lola; und Erneste sprach, trotz ihrer Scham, den Satz noch einmal.
„So?“ machte Lola, ungeduldig, weil sie einen Augenblick von sich selbst fort und über jemand anderen nachdenken mußte.
„Ach ja, du warst das erste Jahr immer in Trauer.“
Sie sah noch in die Luft: ob sie weiterfragen müsse. Wozu; und sie kehrte zum Buch zurück.
„Wenn man so allein geblieben ist, wie ich damals, dann ist das Herz vorbereitet. Drum gewann ich dich, die du auch allein warst, gleich sehr lieb,“ sagte Erneste einfach. Nach einer Pause, da Lola sich nicht regte:
„Nun, ganz vergessen wirst du die alte Erneste wohl niemals!“
Ein stockendes Selbstgespräch.
„Solltest du einst ein Kind zu erziehen haben: Ja, dann denkst du gewiß an mich . . . Du mußt es selbst erziehen . . . Bei Rousseau — hier den Emile wollen wir zusammen lesen — steht folgendes: ‚Wenn ein Vater Kinder zeugt und ernährt, leistet er damit erst ein Drittel seiner Aufgabe . . . Wer die Vaterpflichten nicht erfüllen kann, hat kein Recht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeiten noch menschliche Rücksichten entheben ihn der Pflicht, seine Kinder selbst zu ernähren und zu erziehen. Leser, ihr könnt mir glauben, jedem, der ein Herz hat und so heilige Pflichten versäumt, sage ich voraus, daß er über seinen Fehler lange Zeit bittere Tränen vergießen und sich nie trösten wird.‘“
Erneste sah vom Buch auf: Lola saß blaß da und sah sie durchdringend an. Plötzlich, klar, rasch und eintönig:
„Meinst du etwa meinen Vater?“
Erneste öffnete erschreckt den Mund und konnte nicht sprechen. Sie wehrte mit der Hand ab.
„Meinst du etwa meinen Vater?“ wiederholte Lola. Rosig bis über die Stirn brachte Erneste hervor:
„Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns gesprochen, von dir und mir. Ich halte dich in meinen Gedanken ja immer für mein eigen!“
Lola prüfte sie noch immer: nein, Erneste hatte wohl nicht an Pai gedacht. Wie sie sich aufregte! Welch seltsamer Ton: ich halte dich für mein eigen. Lola stutzte; aber dann verglich sie unwillkürlich das an Ernestes verwachsenem Körper schlechtsitzende Kleid mit ihrem eigenen, das sie auch immer vergeblich zurechtzog; und sie sah weg.
Erneste beugte sich über ihre Häkelei und sann erschüttert: „Sie kann glauben, daß ich ihr wehe tun will? Armes Kind! Armes Kind!“
Etwas später stellte sie eine Frage, und als Lola nicht verstanden hatte, klopfte Erneste auf den Tisch und bemerkte streng:
„Wenn du beim Lesen die Finger in die Ohren steckst, kannst du mich allerdings nicht verstehen. Sprich übrigens französisch!“
Und sie führten zur Übung ein langes, gleichgültiges Gespräch.
Nein, wahrhaft liebenswerte Wesen gab es nur auf andern Sternen; in ihrer Nähe suchte Lola sie nicht. Eines Tages aber fand sie einen jungen Vogel, der vergeblich ins Gebüsch zu flattern versuchte, und nahm den aus dem Nest Gefallenen mit nach Hause.
„Was ist das überhaupt für ein Tier?“ sagte Erneste.
„Das ist ganz gleich,“ erklärte Lola. „Ich habe ihn gern.“
„In der Stadt wollen wir gleich im Buch nachsehen.“
„Nein, bitte nicht! Von welcher Gattung er ist, und alles übrige kümmert mich nicht. Vielleicht ist er ein kleiner Fremder: ich habe ihn gern.“
„Kind, du bist sonderbar; aber wie du willst.“
Nun saß Lola halbe Tage mit dem Vogel in ihrem Zimmer, ließ ihn über ihre Finger steigen, auf ihre Schulter flattern und bot ihm, mit einem Körnchen zum Picken, ihre Lippen. Als er zu fliegen anfing, schloß sie das Fenster, setzte ihn vor sich hin auf den Tisch, betrachtete ihn, den Kopf in der Hand, wie er