BIERKÄMPFE, BAROCKENGEL UND ANDERE BAVARESKEN. Klaus HübnerЧитать онлайн книгу.
porträtierten Münchners unüberwindbar scheint, schiebt Ruederer im folgenden, merkwürdigerweise »Die Landschaft« betitelten Abschnitt eine veritable apokalyptische Vision ein: Wenn »Unglaube, frecher Übermut, Sittenlosigkeit und Gottesleugnung« überhandnehmen, wird das erschreckliche Untier, das den Walchensee umklammert hält, seinen Schweif strecken, der Kesselberg wird bersten und eine »neue Sintflut« wird über Bayerns Hauptstadt hereinbrechen. Seinen darob wahrscheinlich ungläubig den Kopf schüttelnden Lesern aber sagt der Autor: »Und wenn man das Allerunglaublichste behauptet, zum Beispiel, dass augenblicklich in Deutschland vernünftig regiert wird, dann müsst ihr ebenso daran glauben, als wenn ich den Walchensee ausbrechen lasse.«
Da hat man den selbstironischen Ruederer, den literarisch-feuilletonistischen Polemiker, der im nächsten Kapitel behauptet, ganz anders als das Berliner Theaterpublikum schlucke das Münchner wirklich alles hinunter und wiederhole nur immer wieder: »Besser wie im Schauspielhaus wird nirgends gespielt.« Was der Münchner von 1907 wohl wirklich geglaubt hat – denn Preußens Hauptstadt besucht er äußerst selten, und wenn er’s doch tut, geht er keinesfalls ins Theater: »Der Münchner weiß, dass der Berliner von Kunst nichts versteht.« Dem bürgerlich-wohlhabenden, kunstfernen und klatschsüchtigen München seiner Zeit gilt Ruederers bissige Kritik. Für die Dichtkunst hätten seine Bewohner noch nie viel übrig gehabt, schreibt Ruederer – und wenn, dann höchstens für Ludwig Thoma, den man gern lese, weil seine Schriften niemals verletzend wirkten und er doch so schön auf die Preußen schimpfen könne. Echte Kritik ist das nicht: »Vor Thoma verbeugt sich Ruederer im München-Buch, nicht ohne kleinere Seitenhiebe«, schreiben die Herausgeber in ihrem luziden Nachwort.
Nach ausführlicher Kollegenschelte – zwei, drei Ausnahmen gibt es – kommt Ruederer dann ausführlich auf die Neuesten Nachrichten zu sprechen, die Zeitung, die den »Weißwurstphilistern« allzu oft nach dem Munde redet: »Die ewige Sucht, es allen recht zu machen, die allgemeine Schmuserei, das behäbige Gwapplhubertum … Man ist ja in München, man steckt mitten drinnen im angestammten Spezltum, das sich überall breitmacht, das alles vergiftet, das alles Werdende mit seiner fetten Duzbrudersauce übergießt und jeden ehrlichen Gegensatz auflöst in einen großen, molligen Schnadahüpfl-Akkord.«
Auf der Auer Dult, wo man die Bücher eines gewissen Josef Ruederer für zehn oder fünfzehn Pfennig verhökert, lässt der Autor sein München mit einer bemerkenswert selbstironischen Geste ausklingen: »Das Buch über München ist gut, es ist zum Schieflachen. Ob er recht hat, der wackere Antiquar mit seinem ehrenden Nekrologe? Ob mein Buch wirklich gar so zum Lachen reizt? Ob es gut ist?« Richtig enden aber lässt Ruederer seine Schrift auf dem Turm des Alten Peter, mit einem liebevollen, nicht ganz ernst gemeinten, auf jeden Fall aber alles Kritische entschlossen zur Seite schiebenden Rundblick auf seine Vaterstadt: »Mag die bayrische Regierung noch so fromm werden, mag der Landtag den letzten Groschen nur noch für Heugabeln verwenden oder für Rosenkränze, mögen die Künstler selber die größten Dummheiten begehen – diese Luft können sie alle zusammen nicht umbringen. Und der Polyp im Norden mit den großen Fangarmen kann sie nicht nachmachen.«
Eine zornige, bissige, ätzende Liebeserklärung an das München der Prinzregentenzeit hat man da gelesen – wenn man denn so weit gekommen ist! Denn diese Liebeserklärung ist zuallererst eine von gestern. Sicher, den vom Autor umkreisten »Grundfehler des Münchner Lebens«, dass nämlich einfach »zu viel gelobt« wird, wie Josef Hofmiller 1907 schrieb, den gibt es womöglich auch heute noch, und man darf und muss ihn immer wieder kritisieren. Doch selbst wenn das notorische Spezltum oder die klatschinteressierte Literaturverachtung im heutigen Munich noch lebendig sind – aktuell kann man Ruederers Schrift wirklich nicht nennen, und populär wird sie auch durch diese schöne Neuausgabe nicht werden. Wie denn auch?
Heutige München-Lektüre ist vor allem Lesearbeit. Selbst wenn man Experte für die Sozial- und Kulturgeschichte Münchens ist und einem Namen wie Otto Julius Bierbaum, Frank Wedekind, Max Halbe oder sogar Ernst von Possart durchaus geläufig sind, wird man nicht alles auf Anhieb verstehen. Das Buch ist derart eng an die Zeit seiner Entstehung gebunden, dass es sage und schreibe einhundertundacht oft längere Fußnoten braucht, um dem Text einigermaßen folgen zu können. Dazu kommen die oft willkürliche, durchwegs inkonsequente »Faction«-Mischung und der unkonzentriert fahrige, alles andere als elegante Erzählstil – die legitime Empfindung Leo Greiners, »dass hier etwas gestaltet wurde«, bleibt einigermaßen rätselhaft. Für die Herausgeber ist es gerade der »hohe Grad an Authentizität«, der Ruederers Buch weiterhin lesenswert macht: »Die Widersprüche der Stadt, die Zerrissenheit des Autors und ihre Spiegelungen ineinander sind nicht geglättet.«
Das ist zwar durchaus richtig, macht den Text jedoch nicht unbedingt lesenswerter. Immer drauf auf den bierseligen Spießbürger, zwei witzige Bemerkungen hier, drei originelle Neologismen dort, dazu eine Prise Selbstreflexion – das reicht nicht wirklich aus, um mit den Großen der bayerischen Literatur mithalten zu können, mit einer Marieluise Fleißer etwa oder einem Ödön von Horváth. Dass Josef Ruederer zu keiner Zeit aus dem Windschatten Ludwig Thomas treten konnte, dürfte nach der Lektüre seines München eigentlich niemanden besonders wundern. Tut es aber offenbar doch, wie die Rückseite der Neuausgabe zeigt. Moderne Schreibe hin oder her, offene Form oder geschlossene, Kritik oder Affirmation – nein, einen Vergleich mit Thoma hält dieser Schriftsteller nicht aus. Es ist zu wünschen, dass die Neuausgabe dennoch ihre Leser findet und dass sie mehr befriedigt als nur das antiquarische Interesse und das der Germanistik. Zu erwarten ist es nicht.
Josef Ruederer: München (1907). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche und Waldemar Fromm. Kommentiert von Walter Hettche, Waldemar Fromm und Marlies Korfsmeyer (edition monacensia). München 2012: Allitera Verlag. 180 S.
Wenig Ludwig, noch weniger Adolf. Michael Appel über Revolution und Räterepublik
1969 kam der Band Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten heraus. Dessen Erzählstruktur hat der Historiker und BR-Regisseur Michael Appel fast fünfzig Jahre später neu belebt. Er arrangiert mit großem Geschick zahlreiche Stimmen von Zeitzeugen – und zwar, was nicht unbedingt üblich ist, Stimmen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Die Lebenszeugnisse und Schriften des bekanntermaßen revolutionär gesinnten Oskar Maria Graf, »eigentlich die Idealfigur eines Münchner Strizzis«, sind eine zentrale Quelle, die des konservativ-reaktionären Gymnasiallehrers und Publizisten Josef Hofmiller oder die des Geschichtsprofessors Karl Alexander von Müller sind es ebenfalls. »Alles ist aus der Sicht derjenigen erzählt, die diese Zeit gestalteten, auf sie läuft es zu, und das ist eine in der Geschichtswissenschaft eher ungewöhnliche Herangehensweise.« Wissenschaftler wie Max Weber oder Victor Klemperer werden zitiert, Schriftsteller wie Erich Mühsam, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke oder Ricarda Huch, engagierte Frauen wie Lida Gustava Heymann oder Germaine Krull, der kenntnisreiche Jurist Philipp Loewenfeld, Politiker wie Kurt Eisner, Felix Fechenbach oder Ernst Niekisch, aber auch Maximilian von Brettreich, Ernst Müller-Meiningen und andere Vertreter der monarchistischen Ordnung. Nicht zuletzt der Münchner Bahnhofsvorstand Max Siegert, auch ein gewisser Krembs, Jagdgehilfe seiner Majestät. Der Autor entfaltet einen ungewöhnlichen Chor mehr oder minder »authentischer« Stimmen – wobei ihm bewusst ist, wie problematisch dieses »authentisch« sein kann. Er arrangiert nicht nur, er bewertet und deutet auch. Eine wissenschaftliche Studie ist das dennoch nicht. Sondern ein Lesebuch. Es liest sich flüssig und bietet allerhand.
Appel führt zunächst den Münchner Kriegsalltag sowie die rasante Zerstörung der gewohnten monarchisch-bürgerlichen Ordnung vor Augen. Seine Quelleninterpretationen sind oft treffend, bisweilen auch über Gebühr kühn: »Das Leben war, nach heutigem Begriff, eine radikale Hungerkur, und das jahrelang … das Erlebnis des ›Dotschnwinters‹ 1916/1917 war so traumatisch, dass die eigentlich schmackhafte Rübe das gesamte 20. Jahrhundert aus dem kulinarischen Orbit im Land verbannt blieb.« Seine Herangehensweise bewahrt ihn vor vorschnellen Einordnungen und Urteilen: »Die Zukunft war eine große, rätselhafte Glaskugel, in die alle blickten, ohne die Spur einer Gewissheit herauslesen zu können.«
Appel macht plausibel, dass und wie die Nöte und Ängste vieler Menschen zum Agens der Geschichte werden können. Die Regierung nahm die Friedenssehnsucht und Revolutionsstimmung im