Professor Unrat. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
oben auf dem Scheitel; denn jeden Augenblick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser, den jemand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu »fassen«! Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um Unrat her.
So rettete er sich, ehe er's selber wusste, in die abgelegenste, tiefste Gegend, wo am Ende einer langen, stillen Gasse das Stift der alten Fräulein stand. Es war hier ganz dunkel. Ein paar huschende Wesen in halblangen »Mantillen« und mit Tüchern um den Kopf kehrten verspätet heim aus einem Kränzchen, von einem Abendgottesdienst, klingelten verstohlen, zergingen in einer Türspalte. Eine Fledermaus beschrieb Zacken über Unrats Hut. Unrat dachte und schielte nach der Stadt hinauf:
»Dann ist da kein, kein Mensch.«
Er sagte wohl:
»Ich leg' euch Bande noch mal hinein!«
Aber da er seine Ohnmacht fühlte, kam der Hass in ihm ins Zittern und riss ordentlich an ihm; der Hass auf diese Tausende fauler, boshafter Schüler, die ihm immer die schuldige Arbeit vorenthalten, ihn immer bei seinem Namen genannt, immer nur auf Unfug gesonnen hatten; die ihn jetzt mit der Künstlerin Fröhlich ärgerten, sie und den Schüler Lohmann nicht angaben, sondern sich benahmen wie eine »gemeine« Klasse, die zusammenhält gegen den Lehrer; die jetzt alle beim Abendessen saßen, ihn aber nötigten, hier unten herumzuschleichen; und die überhaupt, es ahnte ihm in dieser Stunde, etwas Übles aus ihm gemacht, ihn in den langen Jahren, die er bei ihnen war, fragwürdig zugerichtet hatten.
Er, der seit sechsundzwanzig Jahren die Klasse vor sich hatte, die Klasse mit immer denselben tückischen Gesichtern, hatte nie bemerkt, dass die Gesichter hier draußen und wenn die Zeit hinging, bald ganz gleichgültige Mienen behielten beim Gedanken an Professor Unrat, und dass sie später sogar wohlwollende annahmen. Immer in der Anspannung des Kampfes war er nicht dazu angetan, es zu würdigen, dass die Älteren in der Stadt seinen Namen, sogar wenn sie ihm das Wort laut an den Kopf sagten, nicht aussprachen um ihn zu verletzen, sondern Jugenderinnerungen zuliebe, die ihnen mittlerweile harmlos heiter aussahen; und dass er in der Stadt eine Figur war die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik. Er hörte nicht den Meinungsaustausch zweier Schüler aus der allerersten Generation, die an einer Straßenecke stehen blieben und ihm, er meinte voll Hohn, nachblickten:
»Was ist denn mit dem Unrat? Er wird alt.«
»Und immer schmutziger.«
»Anders als schmutzig hab' ich ihn nie gekannt.«
»O, das wissen Sie wohl nicht mehr. Als Hilfslehrer war er noch 'n ganz adretter Mensch.«
»So? Was der Name tut. Ich kann ihn mir überhaupt nicht sauber vorstellen.«
»Wissen Sie, was ich glaube? Er sich selber auch nicht. Gegen so 'n Namen kann auf die Dauer keiner an.«
III
Unrat hastete die stille Gasse wieder hinauf, denn er hatte einen Gedanken gehabt, dessen Richtigkeit er sofort, aber sofort nachprüfen wollte. Er wusste durch plötzliche Erleuchtung, Rosa Fröhlich sei die Barfußtänzerin, von der man jetzt so viel Aufhebens machte. Sie sollte herkommen und in dem Saal der Gesellschaft für Gemeinsinn ihre Künste sehen lassen. Unrat entsann sich ganz deutlich, wie Oberlehrer Wittkopp, ein Mitglied dieser Gesellschaft, davon erzählt hatte. Er war im Lehrerzimmer an sein Wandschränkchen getreten, hatte es aufgeschlossen, einen Packen Exerzitienhefte hineingelegt und dazu gesagt:
»Nun bekommen wir hier also auch die berühmte Rosa Fröhlich, die auf bloßen Füßen griechisch tanzt.«
Unrat sah Wittkopp vor sich, wie er sich wichtigmachte, eitel um seinen Klemmer herumschielte und die Lippen spitzte, um auszusprechen: »Rosa Fröhlich.« Ganz ohne Zweifel, er hatte gesagt: Rosa Fröhlich. Unrat hörte ja jeden der vier Laute, in Wittkopps gekünstelter Sprechweise und mit dem gesäuselten R. Das hätte ihm früher einfallen sollen! Zweifellos war die Barfußtänzerin Fröhlich inzwischen eingetroffen, und der Schüler Lohmann war mit ihr in Verbindung getreten. Unrat war nun auf dem Wege, beide zu »fassen«.
Er erreichte die Siebenbergstraße, er hatte sie halb durcheilt, da ging donnernd ein Rollladen nieder vor einem Schaufenster, und Unrat blieb, einige Schritte davor, vernichtet stehen. Denn der Rollladen gehörte dem Musikalienhändler Kellner, der bei solchen Gelegenheiten die Karten verkaufte und alles Nähere wusste. Es schien, als sollte Unrat die Zwei, denen er nachsetzte, heute nicht mehr einholen.
Trotzdem konnte er sich nicht denken, dass er jetzt nach Haus gelangen und sein Nachtessen herunterbringen werde. Er war in Jagdleidenschaft geraten. Er gab sich noch ein paar Minuten, machte einen letzten Umweg. Am Rosmarinweg hielt er, ganz erschüttert, vor einem schiefgetretenen Holztreppchen den Schritt an. Es klomm steil bis vor eine schmale Ladentür mit der Inschrift: »Johannes Rindfleisch, Schuhmachermeister«. Eine Warenauslage war nicht da; hinter den Spiegelscheiben der zwei kleinen Fenster standen Blumentöpfe. Und Unrat bedauerte, von seinem guten Geschick nicht schon längst hierher geführt zu sein, zu der Behausung eines rechtschaffenen und harmlosen Mannes, eines Herrnhuters, der kein Scheltwort in den Mund nahm, niemals kränkend die Miene verzog, und der über die Künstlerin Fröhlich anstandslos Auskunft erteilen würde!
Er öffnete die Tür. Eine Glocke schlug an, und der Ton schwang freundlich nach. Die Werkstatt lag sauber aufgeräumt im Halbdunkel. Eingefasst in den Rahmen der Tür zum Nebenzimmer, zeigte sich das mild beleuchtete Bild der Schustersfamilie beim Abendbrot. Der Geselle kaute an der Seite der Haustochter. Den kleinen Kindern gab die Mutter Kartoffeln zur Mettwurst. Der Vater setzte die bauchige Flasche mit Braunbier neben die Lampe, erhob sich und sah nach dem Kunden.
»Nabend, Herr Professer.« Er schluckte erst umständlich seinen Bissen hinunter. »Und womit kann ich dienen?«
»Ja,« versetzte Unrat, rieb sich unsicher lächelnd die Hände und schluckte auch, mit leerer Kehle.
»Entschuldigen Sie man,« setzte der Schuhmacher hinzu, »dass hier schon allens duster is. Hier machen wir um Klock sieben Feierabend. Der Rest des Abendes gehört dem Herrn. Wer da noch arbeiten tut, da is doch kein Segen auf.«
»Das mag ja denn einerseits – ganz richtig sein,« stotterte Unrat.
Der Schuhmacher war einen Kopf höher. Er hatte knochige Schultern und unter seinem Schurzfell einen unvermittelten Spitzbauch. Ergrauende Löckchen, ein wenig ölig, machten den Bogen um sein langes, bleifarbenes Gesicht, dessen Wangen in einen keilförmigen Bart hineinhingen, und das langsam lächelte. Rindfleisch schob immerfort über dem Magen die Finger ineinander, löste sie und steckte sie wieder zusammen.
»Aber das ist es andererseits freilich nicht, weshalb ich komme,« erklärte Unrat.
»Herr Professer, Nabend Herr Professer,« sagte die Frau von der Schwelle her und knickste. »Was stehst du da in 'n Schummern mit Herrn Professer, Johannes, lass ihm doch rein. Herr Professer, wenn Sie es man nich übel nehmen, dass wir uns' Mettwuß essen.«
»Das liegt mir ganz und gar fern, gute Frau.«
Unrat entschloss sich zu einem Opfer.
»Meister Rindfleisch, ich unterbreche ungern Ihr Mahl, aber ich ging grade vorbei und da kam mir der Gedanke, dass Sie mir – aufgemerkt nun also! – ein Paar Stiefel anmessen sollen.«
»Zu dienen, Herr Professer,« und die Frau knickste, »zu dienen.«
Rindfleisch bedachte sich; dann verlangte er die Lampe.
»Denn sitten wi jä all' in'n Dustern bi'n Eeten,« bemerkte die Frau heiter. »Nöh, Herr Professer, kommen Sie man rein, ich mach Licht für Ihnen in der blauen Stube.«
Sie ging voran in einen Raum, wo es kalt war, und zündete Unrat zu Ehren die beiden unversehrten rosa Kerzen an, die sich über ihren krausen Manschetten und flankiert von zwei großen Muscheln, im Trumeau spiegelten. An den krass blauen Wänden verweilten in sonntäglicher Haltung Großvatermöbel