DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus HübnerЧитать онлайн книгу.
neue Aktualität abgewonnen hat«. Dass der inflationäre Gebrauch des vieldeutigen Begriffs auch »Unbehagen« ausgelöst hat, verschweigt Lamping nicht. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die komplexe Idee der »Weltliteratur« vorerst einmal weiterleben wird, und mit ihr auch das kulturwissenschaftliche Konzept. Goethes großes Verdienst sei es nun einmal, »eine suggestive Formel für Prozesse literarischer Internationalisierung« gefunden zu haben. Diese Prozesse halten an, ja sie verstärken sich sogar. Wer sie begrifflich fassen will, kommt an der »Weltliteratur« ebenso wenig vorbei wie an der fast uneingeschränkt empfehlenswerten Studie von Dieter Lamping. Fast? Na ja, ein ausreichend umfängliches Literaturverzeichnis gibt es, aber leider kein Begriffs- und Namensregister. Weitere kritische Einwände allerdings hat dieses einleuchtend strukturierte, klar und verständlich geschriebene Buch nicht verdient.
Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010: Alfred Kröner Verlag (Kröner Taschenbuch 509). 151 S.
Ihm war auf Erden nicht zu helfen
Heinrich von Kleist – ein fremder Zeitgenosse
Ob Der zerbrochene Krug, Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn oder Prinz Friedrich von Homburg – Heinrich von Kleists Dramen werden gespielt, und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum. Seine Erzählungen gelten als Meisterwerke deutscher Prosa, und sie werden auch gelesen, Michael Kohlhaas vor allem, Die Marquise von O … und Das Erdbeben in Chili. Die Figur des 1777 in Frankfurt an der Oder geborenen und 1811 am Berliner Wannsee zusammen mit Henriette Vogel aus dem Leben geschiedenen Dichters ist, auch durch Film und Populärkultur, zur Ikone romantischer Zerrissenheit und Rastlosigkeit geworden. Reden wir nicht vom Literaturunterricht an Schulen und Universitäten – Kleist ist so präsent wie Goethe, Schiller oder Hölderlin, und womöglich wird sein Werk freiwilliger, öfter und intensiver rezipiert als das der Weimarer Klassiker oder das des genialen Außenseiters aus Württemberg.
In der Germanistik spielt die Kleist-Forschung seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle, und wie es sich für Germanisten gehört, waren sich die Forscher keineswegs immer grün. Dass es durchaus unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten gibt, führt ein vornehmlich für Experten belangvoller Sammelband vor Augen, der gerade wegen seiner meist brillant formulierten Heterogenität hochinteressant ist – und uns hier nicht weiter beschäftigen darf. Was auch für Klaus Müller-Salgets Buch gilt. Seine konzise und solide Einführung in die Materie fasst das heutige Wissen um Kleists Biografie und die Erkenntnisse zu seinen Werken sehr gekonnt zusammen und gewinnt nicht zuletzt durch die Bibliografie an Format. Trotz dieser beiden gelungenen Publikationen muss man aber die lang erwartete Biografie in den Vordergrund stellen, in der Rudolf Loch, zu DDR-Zeiten ein unermüdlicher Initiator der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt an der Oder und bis 1994 deren Direktor, sein lebenslanges Bemühen um den Dichter auf spannende Art und Weise ausgebreitet hat.
Loch schreibt ein elegantes, angenehmes und eingängiges Deutsch, das dem erfolgreichen Genre der wissenschaftlich fundierten und doch mühelos zu lesenden Künstlerbiografie optimal entspricht. Im Gegensatz zu Müller-Salget trennt er die Darstellung des Lebens nicht von der Charakterisierung und Deutung der Werke, ohne die Sphären des Biografischen und des Poetischen zu vermischen. Der Biograf lässt dem Dichter wie auch den Werken ihr Geheimnis – er zeigt auf, wägt ab, fragt, vermutet, stellt infrage. Der Gestus des Behauptens ist diesem Buch fremd, übrigens auch das modische Sicheinbringen nach dem Motto »Ich und Er«, wie man es von Peter Härtling, Dieter Kühn und anderen Literaten kennt. Loch erzählt, getragen von beneidenswert stupender Sachkenntnis, angenehm unaufgeregt und gerade deshalb überzeugend. Und er weiß, wie weit er gehen darf. Beispiel: Kleists durch Albrecht von Haller und Jean-Jacques Rousseau entflammte, damals durchaus nicht ungewöhnliche Schweiz-Begeisterung. Loch erzählt von den rastlosen Reisen durch das Land, von den Schweizer Freunden, von den hier erfahrenen und weitreichenden Impulsen für sein dichterisches Schaffen, von Kleists Versuch einer Existenz als Landwirt und Dichter auf der nachmals berühmten Insel im Thuner See, und er macht ganz deutlich, dass wir darüber nur manches und nicht alles wissen. Punkt. Loch betont, dass Kleist ein sensibler, kluger, zupackender und zugleich zögerlicher Preuße und Europäer in einer widerspruchsvollen Epoche war, nicht nur ihr unglückliches Opfer. Der Dichter, dem »auf Erden nicht zu helfen« war, gilt erst seit hundert Jahren als Zeitgenosse der Moderne – zu Recht, wie Rudolf Lochs uneingeschränkt lesenswerte Biografie beeindruckend verdeutlicht.
Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen 2003: Wallstein Verlag. 540 S.
Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2002: Reclam Verlag. 359 S.
Anton Philipp Knittel / Inka Kording (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 299 S.
Nette Idee das
Heinrich von Kleist in der Schweiz
»Kleist hat Kost und Logis in einem Landhaus auf einer Aareinsel in der Umgebung von Thun gefunden«, beginnt die erstmals im Juni 1907 veröffentlichte Erzählung Kleist in Thun. Was der vor zweihundert Jahren am Berliner Wannsee aus dem Leben geschiedene Preuße im Jahr 1802 dort trieb, ist ihrem Autor Robert Walser ziemlich klar: »Er dichtet natürlich … Er hat Bauer werden wollen, als er in die Schweiz gekommen ist. Nette Idee das.« In der Tat kann man betrübt lächeln über diesen von intensiver Lektüre der Schriften Rousseaus beflügelten und doch von vornherein zum Scheitern verurteilten Selbsterfüllungsversuch eines ruhelosen Vierundzwanzigjährigen, der seit Kurzem ohne Vormund über sein ererbtes Vermögen verfügen durfte. Gerhard Schulz, Verfasser der trotz aller Neuerscheinungen im sogenannten Kleist-Jahr 2011 noch immer besten Biografie, sieht die Sache wohl ähnlich wie Robert Walser. Aber er bietet auch an, Kleists Absicht, ein Schweizer Bauer zu werden, ernst zu nehmen und sie als »erlösendes Engagement für praktisches Handeln« zu betrachten. Viel wichtiger aber als Kleists letztlich ja nur aus verstreuten Briefstellen erschlossene Intentionen ist natürlich: »Hier wurde Heinrich von Kleist wirklich zum Dichter, hier entstand sein erstes Drama, und angesichts dessen sind alle guten Gründe für sein Agrarprojekt wie alle Zweifel daran zweitrangig.« Oder, wie es Günter Blamberger in seiner Biografie formuliert: »Die Schweiz ist für den Nomaden Kleist zweierlei: Ort der Melancholie wie der Utopie. Letzteres heißt ja Nicht-Ort und meint einen Ort, wo er zugrunde gehen und zugleich auf den Grund seines Daseins gehen und sich neu entwerfen kann. In und durch die Literatur.«
Der junge Mann, der seiner Mit- und Nachwelt so viele Rätsel aufgegeben und sich mit unvergleichlich sprachmächtigen Schauspielen und Erzählungen tief und nachhaltig in die deutsche Literaturgeschichte eingeschrieben hat, kam Ende 1801 von Paris her in die Schweiz. Es waren politisch unruhige Zeiten in der Helvetischen Republik von Napoleons Gnaden, und in einem Brief an seine Schwester Ulrike heißt es einmal, es ekele ihn bereits vor dem bloßen Gedanken, irgendwann einmal ein Franzose werden zu müssen. Zwar unternahm Kleist einige Anläufe, ein Landgut zu erwerben, doch seinen Siedlertraum gab er schon bald auf. Lieber Dichten als Säen: Von April bis Juni 1802 schrieb er an seinem Drama Die Familie Schroffenstein, vielleicht auch schon am Robert Guiskard, und gelegentlich fuhr er nach Bern und las daraus vor. Der Schriftsteller Heinrich Zschokke, der Verleger Heinrich Gessner und Ludwig, der Sohn des großen Dichters Christoph Martin Wieland, wurden ihm Freunde. Beste Voraussetzungen für eine Literatenkarriere, sollte man meinen. Kleists erstes Drama, mit der Jahresangabe 1803 schon im Herbst 1802 ohne Nennung des Verfassernamens in Gessners Verlag erschienen, war schließlich auch keine »elende Scharteke«, wie er selbst einmal geäußert hat, sondern, folgt man seinem Biografen Schulz, »im Spiel der Motive eher schon so etwas wie die Ouvertüre zu seinem späteren Werk«. Auch manche Anregung für seine Justizkomödie Der zerbrochne Krug, die er dann freilich in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts ansiedelt, dürfte Kleist in seinen Schweizer Monaten erhalten haben. »Die Schweizer Verhältnisse und die Persönlichkeit Zschokkes haben vermutlich mehr in Kleist, in seiner Entwicklung und in seiner Dichtung, ausgelöst, als bislang erkannt worden ist«, schreibt Rudolf Loch, ein weiterer Kleist-Experte. Briefe verfasste der junge Dichter auch, darunter einen, mit dem er sein prekäres Verlöbnis mit Wilhelmine von Zenge de facto auflöste. Das war am 20. Mai, und schon Ende Juni ist es vorbei