Der Zaun. Dietmar TelserЧитать онлайн книгу.
Vorfall geht, wird er wütend, ohne laut zu werden. Ein Grenzschützer soll an einer illegalen Rückführung beteiligt gewesen sein. Penev sagt, dass dieser Polizist in einer Schicht zuvor noch eine hochschwangere Frau über die Grenze getragen habe. So konnte sie ihr Kind in Sicherheit zur Welt bringen. Die Mutter soll aus Dankbarkeit das Kind nach dem Helfer genannt haben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Polizist bei seiner nächsten Schicht Menschen an der Grenze zurückweist.“ Der Dolmetscherin gehen Penevs Aussagen jetzt sichtlich nahe. Immer wieder macht sie lange Pausen zwischen den Ausführungen. Einmal stockt sie, als ihr beinahe die Tränen kommen. Penev redet sich jetzt in Rage: Bulgarien würde in den Berichten wie irgendein afrikanisches Land dargestellt. Am Ende diktiert er: „Ich möchte, dass Sie das notieren: Grenzpolizisten, denen Push-Backs vorgeworfen werden, das sind die, die den Babys der Migranten Essen gegeben und Windeln gekauft haben. Und dies mit dem eigenen Geld bezahlt haben.“
Es steht Aussage gegen Aussage, aber es wird nicht lange dauern, bis Bulgarien wieder von sich reden machen wird. Im Frühjahr 2015, Penev ist inzwischen zum Chef der Grenzpolizei aufgestiegen, sterben zwei Iraker, die der vom „IS“ verfolgten Minderheit der Jesiden angehörten, im Grenzgebiet. Ihre Gruppe berichtete später davon, dass sie von bulgarischen Grenzpolizisten abgewiesen und brutal zusammengeschlagen worden sein sollen, die Opfer starben an Unterkühlung.18 Penev muss wenig später gehen, es ist bis heute nicht klar, ob dies der Grund war. Es ist aber nicht der letzte Vorfall: Wieder vergehen nur wenige Monate, dann fallen an der Grenze Schüsse, ein Mann aus Afghanistan stirbt.19 Die Organisation „Oxfam“ veröffentlicht Ende 2015 mehrere Fälle von mutmaßlicher Polizeigewalt.20 Die Zahl der Einreisen steigt in Bulgarien trotzdem, wenn auch deutlich langsamer als im Nachbarland Griechenland. 2014 werden in Bulgarien 11.081 Asylanträge gezählt, im Jahr 2015 sind es 20.391.21
Hotel Ritz, Sofia
Wenn Menschen vor einem Krieg fliehen, haben sie dann in einem Land wie Bulgarien, in dem kein Konflikt droht, nicht ihr Ziel erreicht? Wir fragen uns, weshalb die Menschen nicht hierbleiben wollen. Sie haben uns vom „Hotel Ritz“ in Sofia berichtet. Das „Ritz“ ist kein Hotel. Es ist ein nie fertiggestellter Rohbau im Südwesten der Hauptstadt. Flüchtlinge und Migranten haben dem Gebäude diesen Namen gegeben, manche nennen es auch das „Five Star“, das Fünfsternehotel.
Man kann es von Weitem sehen. Drei Etagen nackter Beton, Gras und Gestrüpp haben den Eingang fast zuwachsen lassen. Trajan, ein freundlich lächelnder Obdachloser mit einem Bauch wie ein Medizinball, sitzt im Parterre vor seinem kokelnden Teekessel, an seiner Seite zwei kläffende Hunde. Er ist so etwas wie ein Hausmeister, der sich um das Gebäude kümmert und auch ein wenig um die, die dort untergebracht sind. Er ist der einzige Bulgare, der im „Five Star“ lebt, ein guter Mensch, sagen jene, die die zweite Etage über ihm bezogen haben.
Wer die Treppe hochsteigt, der findet sie am frühen Morgen unter dicke Decken gekauert. Der Wind zieht durch die Fensteröffnungen. Auf dem Boden liegen Unterwäsche und Plastikflaschen, in den Ecken erstarrte Exkremente. Die Wände erzählen von den Träumen der Bewohner. Eine nackte Frau. Bibelsprüche. In einem nach außen offenen Raum hat jemand eine riesige Sonne gemalt. „Hello Sunshine!“ Und in einem anderen Raum: „I will never stop my journey half way until I reach my home.“
„Das ist das Five Star“, sagt Djibi aus Mali. „Man wird krank hier. Wenn nicht heute, dann irgendwann Jahre später.“ Er reißt die Wolldecke zur Seite, die die Tür zu seiner Schlafstelle ersetzt. Es sind ein paar Quadratmeter Beton, auf denen er seit drei Monaten lebt. Sie sind sieben, acht Bewohner derzeit, alle stammen sie aus Afrika.
Eigentlich sind es nur wenige hundert Meter zum Flüchtlingsheim Ovcha Kupel. Das ist eine offizielle Unterkunft, die in keinem schlechten Zustand ist. Aber Djibi sagt, dass dort kein Platz für ihn sei. Er selbst habe einen Antrag gestellt, um aufgenommen zu werden. Zuletzt soll ihm sogar ein Anwalt ein Papier geschrieben haben, dass er keinen Ort zum Schlafen habe und nicht wisse, wovon er leben solle. „Wahrscheinlich haben sie mein Schreiben irgendwo hingelegt und vergessen.“ Einmal hat er versucht, heimlich in das Flüchtlingsheim zu gelangen. Djibi versteckte sich unter einem Bett, aber er wurde entdeckt. „Sie haben mir gesagt, dass sie mich das nächste Mal ins Gefängnis stecken werden.“ Drüben im Flüchtlingsheim streiten sie das ab.
Djibi möchte am liebsten weiter in den Norden. Aber auf legalem Weg darf er das Land nicht verlassen. Der Dublin-Vertrag legt fest, dass Schutzsuchende, die nach Europa kommen, ihren Asylantrag in dem Land der EU stellen müssen, das sie als erstes betreten. Die EU-Länder wollten mit der Unterzeichnung im Jahr 1990 verhindern, dass Asylbewerber in mehreren Ländern Anträge stellen und sich schließlich für das Land mit den attraktivsten Bedingungen entscheiden. Zudem sollte vermieden werden, dass Flüchtlinge von Land zu Land geschoben werden.22 Die Folge ist: Wer nicht das Glück und das Geld hat, mit einem gefälschten Reisepass oder einem Touristenvisum im Flieger nach Europa einzureisen, muss den Land- oder Seeweg nehmen – und diese Wege führen meist durch die EU-Länder Griechenland, Italien oder eben Bulgarien.
Werden Menschen wie Djibi in Bulgarien registriert, müssten sie dort also auch bleiben. Keine Behörde interessiert es, ob Freunde in Frankreich oder England auf sie warten. Und niemand fragt, welche Sprachen sie beherrschen. Die Freizügigkeit, also die freie Wahl des EU-Landes, in dem man leben möchte, gilt für anerkannte Flüchtlinge frühestens nach fünf Jahren.
Die Dublin-Verordnung scheint wie gemacht für die Staaten Mitteleuropas. Sie ist wie ein zweiter Verteidigungsring und sie ist eine Katastrophe für Länder wie Bulgarien. Das „Armenhaus der EU“ kann Asylbewerber kaum adäquat versorgen. Seit Jahren kommt es immer wieder zu sozialen Unruhen. Auf dem regulären Arbeitsmarkt haben Flüchtlinge kaum Chancen. Bulgarien muss Flüchtlinge aufnehmen, die es nicht haben will – und die in vielen Fällen gar nicht von ihm aufgenommen werden wollen. Das Dublin-Abkommen funktioniert 2014 eigentlich schon lange nicht mehr. Reagiert wird darauf aber nicht. 2015 müssen Österreichs Kanzler Werner Faymann und seine deutsche Amtskollegin Angela Merkel die Dublin-Regeln auch offiziell vorübergehend aufheben, um eine humanitäre Katastrophe in Ungarn zu verhindern.23
Ein Dublin-Abkommen, das nicht funktioniert, weil es vielleicht auch gar nicht funktionieren kann, ist eine schlechte Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Bulgariens Integrationsprogramm lief Ende 2013 aus. Anerkannte Flüchtlinge leben seither ohne jede Integrationsperspektive. Es gibt kaum Sprachkurse, klagen Flüchtlingsorganisationen, eine Unterstützung bei der Arbeitssuche sei nicht ausreichend gewährleistet, eine Unterkunft zu finden, beinahe aussichtslos, sie erhielten kaum soziale Hilfe oder eine Krankenversicherung.24 Zwar dürfen anerkannte Flüchtlinge noch einige Monate in den Unterkünften bleiben, doch danach sind sie auf sich allein gestellt. Zuletzt wurde Asylbewerbern in den Unterkünften die monatliche Unterstützung von umgerechnet 33 Euro gestrichen – mit der Begründung, dass es dort täglich Mahlzeiten gäbe.25
Djibi ist 25 Jahre alt, er will lernen, studieren, er möchte Anwalt werden. „Das ist mein Traum“, sagt er. „Aber jetzt sitze ich hier, mache nichts außer warten.“ Er sagt, dass er den Tag verflucht, an dem er in dieses Land einreiste. „Ich bin so wütend auf mich. Hätte ich gewusst, dass sie uns hier wie Tiere behandeln, ich wäre zu Hause geblieben.“ Manchmal finden Djibi und seine Freunde aus dem „Hotel Ritz“ in der Stadt kleine Gelegenheitsjobs, verdienen 10 Lew, wovon sie manchmal drei Tage lang leben. An manchen Abenden treffen sie sich an der Banja-Baschi-Moschee im Zentrum der Stadt. Viele Migranten kommen dorthin, gerade jetzt im Ramadan, weil sie in der Moschee kostenlos essen können. Andere sind dort, um sich auszutauschen und den weiteren Weg ihrer Flucht zu planen, manche, weil sie einfach nur Zeit totschlagen müssen, bis ihr Schlepper sie weiter in das nächste Land bringt.
Banja-Baschi-Moschee, Sofia – Freitagsgebet
Er hat alles notiert, jeden Tag dokumentiert. Ehzanullah sitzt im Gebetsraum der Banja-Baschi-Moschee und erzählt von seiner Flucht. Er spricht mit einer melancholischen, monotonen Stimme, immer wieder gesellen sich Besucher hinzu, folgen den Worten Ehzanullahs, mal nickt oder murmelt einer zustimmend, als hätte er das Gleiche erlebt und geht wieder weiter.
Ehzanullah