Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna KinigerЧитать онлайн книгу.
alle Erwachsenen Jugendliche und Kinder so ernst nehmen. Wie ein Bildungssystem aussehen würde, in dem Lehrer*innen und Schüler*innen wirklich gemeinsam von- und miteinander lernen. Aus vorgegebenen Lerninhalten entstünde ein gemeinsamer Lernraum. Aus Ein- und Unterordnung würde ein gemeinsamer Dialog. Aus passend und unpassend würde ein Erkennen und Ernstnehmen von Unterschiedlichkeiten. Aus einem Einheitsbrei entstünde eine wahrhafte Vielfalt. Auseinandersetzen miteinander, Zuhören, Ernstnehmen, im Dialog bleiben und gemeinsam nach guten Möglichkeiten suchen, wären die Folge. Und sind dies nicht genau die Fähigkeiten, die wir in der Welt in Zukunft benötigen?
Wir erhoffen uns, dass die vorliegende Arbeit von Johanna Kiniger anregt, Jugendliche und Kinder ernster zu nehmen und mit ihnen gemeinsam heute die Schule von morgen zu entwickeln.
Elfie Czerny & Dominik Godat
Zentrum für Lösungsfokussierte GesprächsFührung
1 Einleitung
1.1 AUSGANGSSITUATION UND FORSCHUNGSZUGANG
Internationale Studien, Forschungsprojekte und Statistiken belegen, dass viele Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die Schulverweigerung als Problem sehen. In dieser Arbeit wird Schulverweigerung von einem neuen Blickwinkel her erforscht. Durch Reframing soll ein UM- und NEUDENKEN in Gesellschaft und Schule angeregt werden. Es gilt und galt zu erforschen, ob die systemisch-lösungsorientierte Betrachtungsweise zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führt und wie die systemisch-lösungsfokussierten Fragestellungen des Interviewleitfadens auf die befragten Personen wirken. Öffnen sich durch den Lösungsfokus neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten? Macht Lösungsfokus einen Unterschied?
1.2 DER WEG HIN ZUR FORSCHUNGSFRAGE – EIN ABBILD VON UNVORHERSEHBAREN DYNAMIKEN
Im Sinne des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes wurde die Eigendynamik von Prozessen als kreative Lösungsmöglichkeit und als Entwicklungsimpuls wahrgenommen und genutzt. Meine ursprüngliche Forschungsfrage war problemorientiert und lautete: „Schulverweigerung ist ein großes Problem. Warum verweigern Jugendliche den Schulbesuch?“ In den ersten drei Probeinterviews kritisierten die Schulverweigerer*innen übereinstimmend den Zugang zur Thematik. Für die Befragten waren die Fragestellungen des Interviewleitfadens zu „normal“, negativ behaftet und einseitig. Sie wünschten sich ein Reframing, ein Umdenken und mehr Wertschätzung den Schulverweigerer*innen gegenüber. Darum änderte ich, gemeinsam mit den drei Jugendlichen, mit welchen ich die Probeinterviews durchgeführt hatte, den Interviewleitfaden ab. Wir entwickelten gemeinsam die systemisch-lösungsorientierten Fragestellungen weiter und passten sie an das Weltbild, an die Vorschläge und Erfahrungen der Betroffenen an. Anschließend wurden die 20 Interviews mit Schulverweigerer*innen aus Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz durchgeführt.
1.3 FORSCHUNGSFRAGE UND ABLAUF DER SYSTEMISCHLÖSUNGSORIENTIERTEN INTERVIEWS
Die Forschungsfrage der empirischen Untersuchung lautete am Ende folgendermaßen: Schulverweigerung als Entwicklungschance?
Die partizipierenden Schulverweigerer*innen bezeichneten sich während der Befragung öfters als Expert*innen ihres Lebens und somit auch als Expert*innen für Schulverweigerung. Ihr größter Wunsch war, die Ergebnisse dieser Forschung zu veröffentlichen, um Breitenwirkung zu erzielen und um durch Verstörung bestehende Strukturen zu durchbrechen und ein Umdenken in der Gesellschaft einzuleiten. Mehrere Schulverweigerer*innen äußerten im Laufe des Gespräches zudem den Wunsch, einen systemisch-lösungsorientierten Entwicklungskoffer von Schulverweigerer*innen für Schulverweigerer*innen mit wirkungsvollen Tools zu entwickeln. Dieser Entwicklungskoffer ist in Ausarbeitung und wird bald veröffentlicht. Ein Tool des Entwicklungskoffers wird in diesem Buch vorgestellt.
1.4 AUFBAU DER ARBEIT UND EINBLICK INS BUCH
Zu Beginn der Arbeit werden die Begriffsdiffusion und Trennschärfenproblematik des Begriffes „Schulverweigerung“ thematisiert. Die Annäherung an das Phänomen Schulverweigerung erfolgt im Sinne des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes vielschichtig. Nach einem kurzen Einblick in die Entwicklung der Schulabsentismusforschung, werden grundlegende Theorien zur Schulverweigerung sowie schultheoretische Aspekte aufgezeigt und die Möglichkeit des interdisziplinären Forschungszugangs thematisiert. Aktuelle und vergleichende Studien geben Einblick in neuere Entwicklungen. Anschließend werden interdisziplinäre Handlungsansätze und neueste Erkenntnisse in Prävention, Intervention und Rehabilitation vorgestellt. Ein inhaltlicher Schwerpunkt ist die Verknüpfung von Schulverweigerung, Entwicklung und Lösung in ihrer Vielfalt. Schulverweigerung wird einerseits als ein sich zuspitzender Entwicklungsprozess ergründet und anhand von Phasenmodellen veranschaulicht, andererseits aber auch als ein entwicklungsphasentypisches Handeln thematisiert. Im nächsten Abschnitt des Buches wird der Bogen gespannt zwischen Schulverweigerung und Nutzung des Entwicklungspotentials. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass durch Passung, d. h. durch Generierung von „passenden“ Bedingungen, neue Entwicklungen und Veränderungen hervorgebracht werden (vgl. Dreher 2015, o. S.). Durch Passung entsteht Flow und Flow ist der wichtigste Anreiz, um das Entwicklungspotential zu entfalten und zu nutzen. Diese Erkenntnisse sind im Umgang mit Schulverweigerer*innen wichtig und eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten.
Im nächsten Abschnitt wird eine Verknüpfung zwischen Schulverweigerung und dem systemisch-lösungsorientierten Ansatz hergestellt. Hierbei geht es einerseits um Schulverweigerung als Lösung, andererseits aber auch um Schulverweigerung als zirkulärer Lösungsfindungsprozess und innerer bzw. sozialer Konflikt. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit systemisch-lösungsorientierten Handlungsmöglichkeiten und Hilfestellungen bei Schulverweigerung. Hierbei wird konkret auf die systemisch-lösungsorientierte Beratung und das systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitcoaching mit Schulverweigerer*innen Bezug genommen.
Ein innovativer Schwerpunkt dieser Forschungsarbeit ist die Erprobung des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes in der qualitativen Sozialforschung. Zu Beginn wird die angewandte Methode der Forschung vorgestellt, dann das Forschungsdesign, das Erhebungsinstrument und die grundlegenden Inhalte zum systemisch-lösungsorientiert Leitfadeninterview. Die Kategorienbildung erfolgte induktiv und deduktiv. Die Auswertung der Interviews wurde mit MAXQDA durchgeführt.
Im nachfolgenden Kapitel werden die bahnbrechenden Forschungsergebnisse vorgestellt. In diesem Zusammenhang stellen die Interviewpartner*innen ihre kleinen Schritte hin zur perfekten Zukunft vor und sprechen über ihre Lösungsvisionen. Ein interessantes Forschungsergebnis ist das „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“. Im Verlauf der Forschungsarbeit wurde eine sich ständig wiederholende Dynamik des Schulverweigerungs-Prozesses ersichtlich. Das „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“ wird in diesem Buch genauer erklärt und veranschaulicht. Abgerundet wird die Arbeit mit einem Einblick in den systemisch-lösungsfokussierten Entwicklungskoffer von Schulverweigerer*innen für Schulverweigerer*innen. Der Entwicklungskoffer baut auf dem „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“ auf und ist für Prävention, Intervention und Rehabilitation von Schulverweigerer*innen geeignet. Der systemisch-lösungsfokussierte Entwicklungskoffer ist das Ergebnis und zugleich das Abbild der Eigendynamik dieser Forschungsarbeit und von Systemen.
2 Vorwort von „Max, dem Schulverweigerer“
Im Sinne des Perspektivenwechsels, der Vielschichtigkeit, des Expertentums und der Partizipation äußert sich Max, der Schulverweigerer, zur Schulverweigerung. Max ist ein Interviewpartner.
Liebe Leser*innen,
ich finde, dass den Expert*innen für Schulverweigerung viel mehr Gehör geschenkt werden sollte.