Und Friede auf Erden von Karl May. Karl MayЧитать онлайн книгу.
wahre Glückseligkeit kommt uns vom Himmel hernieder, und die Menschen sollen sie
neidlos und friedlich unter sich verteilen.« Das ist doch genau dasselbe. Ihr Glaube und unser Glaube sind einander also
gleich. Wenn ich dem meinigen gehorche, handle ich, wie ein Christ zu handeln hat, und wenn Sie tun, was der Ihrige
gebietet, so sind Sie das, was Sie vorhin einen Confucianer genannt haben.«
Diese Art der Auffassung brachte dem Amerikaner die Sprache wieder.
»Bitte sehr!« rief er aus. »Ich, ein Confucianer! Welch eine Logik! Zwar scheint Ihnen unsere Bibel nicht unbekannt zu
sein, aber Sie können unmöglich eine Ahnung von den zahllosen Verschiedenheiten haben, welche zwischen Ihrem
Glauben und dem christlichen vorhanden sind!«
»Das tut nichts!« lächelte Fu. »Diese Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden
sind. Ihr Christen liegt ja untereinander selbst im Streit! Es kommt nur auf den Ertrag, auf das Ende, auf den Abschluß, auf
die Summe an. Wenn zwei Rechnungen genau dieselbe Summe ergeben, so ist das ein Beweis, daß beide richtig sind.
Vielleicht sind einzelne Posten anders benannt; einige hier zusammengezogen, dort aber auseinander gehalten worden;
die eine ist mit lateinischer Schrift, die andere in chinesischen Zeichen geschrieben; man hat die eine von links nach
rechts, die andere aber umgekehrt zu lesen. Das ist Alles, Alles zwar nicht gleichgültig, aber doch nur Nebensache. Die
Hauptsache ist, daß die Summen stimmen. Und wenn sie gleich sind, so ist die eine Rechnung genau so viel wie die
andere wert, und keiner von Denen, die sie geschrieben haben und dem Himmel präsentieren, darf behaupten, daß die
Buchführung des Anderen eine falsche sei. Sie haben gesehen, daß unsere Religionen ganz genau dieselbe Summe
ergeben. Daß die einzelnen Posten geschichtliche oder nationale Verschiedenheiten zeigen, gibt der Berechnung Leben
und Interesse, und es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Richtigkeit der einen Rechnung gar nicht ohne die
Richtigkeit der anderen zu beweisen wäre. Indem Ihr Glaube ganz dieselben Früchte wie der unsere bringt, beweisen Sie
uns, daß er auf keinem Irrtume beruht, und wir würden ebenso unhöflich wie unklug handeln, wenn wir behaupteten, daß es
für Sie notwendig sei, ihm zu entsagen und sich zu dem unsern zu bekehren.«
Der Missionar war den Worten des Chinesen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, welche sich nach und nach immer
mehr in Verwunderung verwandelte. Er hatte nicht für möglich gehalten, daß der Spieß auf eine solche Weise
herumgedreht werden könne, und da es ihm an Gedanken und also auch an Worten zu einer Entgegnung fehlte, so
wandte er sich in seiner Verlegenheit an seine Tochter:
»Hast du es gehört, Mary? Man ist so höflich und so klug, mich nicht bekehren zu wollen! Diese "Summe" der
Religionen kommt mir ungemein verdächtig vor. Man hat darüber nachzudenken!«
»Das können Sie sich ersparen«, bemerkte der Chinese. »Christus sagt im Matthäus zweimal kurz hintereinander:
"An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!" Die Früchte aber ergeben doch die Summe von des Baumes Tätigkeit und
Wert. Sie hören, daß ich als Christ zu Ihnen spreche!«
»Aber woher kommt Ihnen denn diese Kenntnis unserer Heiligen Schrift?«
»Aus dem Gehorsam gegen unsere heiligen Schriften, welche es mir zur Pflicht machen, alle Wege kennen zu lernen,
die zum Heil führen. Ueberall, wo ein Tempel oder eine Kirche steht, ist ein solcher Weg geöffnet. Der Eine geht ihn von
dem Tempel, der Andere von der Kirche aus; Beide aber wandern nach derselben Stelle, wo die Ernte abzuliefern und
die Rechnung vorzulegen ist.«
»Sie meinen den Tod? Aber das ewige Leben nach demselben? Die Seligkeit? Was wissen Sie von dieser?«
»Wir wissen, daß unsere Ahnen sich dort befinden, und wir verehren sie. Sie glauben, daß Ihre Seligen, Ihre Heiligen
dort wohnen, und senden ihnen Ihre Gebete zu. Ist das nicht ganz dasselbe?«
»Was das betrifft, so werden Sie auf diese Ihre Ahnen wohl verzichten müssen, denn - - -«
»Müssen? Müssen?« fiel ihm da Fu schnell in die Rede.
Er sah aus, als ob er zornig aufspringen wolle. Es war gewiß, daß der Amerikaner gar nicht ahnte, wie viele Fehler er
gemacht hatte. Waren ihm denn die Sitten der Chinesen wirklich so unbekannt, wie man aus seinem Verhalten schließen
mußte? Dann hätte er zu Hause bleiben sollen! Oder fühlte er sich von seinem Berufe in der Weise begeistert, daß es
außer seinen Bekehrungswünschen keine anderen Rücksichten für ihn gab? Oder gehörte er zu der gar nicht seltenen
Sorte von Kaukasiern, welche meinen, daß die Angehörigen anderer Rassen nicht nur gegen körperliche, sondern auch
gegen seelische Mißhandlungen weniger empfindlich sind als wir? Daß er in dieser Weise über die Ahnen sprach, war
eine Rücksichtslosigkeit, die gar nicht größer sein konnte, und ich war überzeugt, daß die Chinesen entweder ihn von
ihrem Tisch weisen oder sich selbst entfernen würden, zumal sie von ihm infolge ihrer Gebräuche gezwungen worden
waren, auf das Essen zu verzichten, was er aber gar nicht beachtet zu haben schien. Doch geschah nicht, was ich
vermutet hatte. Fu beherrschte sich. Er fuhr in demselben freundlichen Tone, in welchem er früher gesprochen hatte, fort:
»Wer auf seine Verstorbenen verzichtet, der ist nicht wert, daß sie für ihn gelebt haben. Er würde ja dadurch auf sich
selbst verzichten, weil er sein Dasein nur dem ihrigen verdankt.«
Da traf ihn ein warmer Blick aus Marys Augen. Es war ihr wahrscheinlich nicht entgangen, daß es ihm Ueberwindung
gekostet hatte, ruhig zu bleiben, und es drängte sie, ihm ein zustimmendes Wort zu sagen:
»Wer könnte einen solchen Verzicht verlangen! Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen,
deren Liebe mir eine ganze Welt gegeben hat! Ich kann sie mir nicht tot denken. Ich weiß, sie ist noch heut bei mir, wie
sie stets bei mir gewesen ist. Der Unterschied ist nur, daß ich sie früher sah, jetzt aber nicht mehr sehen kann. Aber ich
fühle sie. Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der
Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können.«
»Mary, du sprichst sehr sonderbar!« antwortete ihr Vater in verweisendem Tone.
Tsi, welcher aus Hochachtung vor seinem Vater bisher noch kein Wort gesprochen hatte, hielt die Augenlider halb
gesenkt und den Kopf ihr leise zugeneigt, als ob er wünsche, daß sie weitersprechen möge. War es nur der tiefe Wohllaut
ihrer Stimme oder auch der Inhalt ihrer Worte, der dies bewirkte? Fu, welcher sie nur einmal mit einem flüchtigen Blick
gestreift, dann aber nicht mehr beachtet hatte, wendete ihr jetzt sein Gesicht voll zu, betrachtete das ihrige mit offenem
Interesse und sagte dann in einer Weise, mit welcher er wohl noch kein chinesisches Mädchen ausgezeichnet hatte:
»Ich danke Ihnen, Miß Waller! Nichts kann so falsch sein, wie die